Leben im Alter:Vom Go-go zum No-go

Spaziergang im Nebel

Wen kümmern die Alten? Altersexperte Thomas Klie beschäftigt sich mit einem ungeliebten, aber umso nötigeren Thema.

(Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb)

Endlich mal ein vernünftiges Konzept: Mit seinem Buch "Wen kümmern die Alten?" legt der Jurist und Altersexperte Thomas Klie ein zukunftsweisendes Modell für unsere Gesellschaft vor, die von Überalterung bedroht ist. Warum das Buch jeden etwas angeht.

Von Ruth Schneeberger, Berlin

Es ist wie mit dem vielfach bemühten schweren Verkehrsunfall: Alle sehen hin, aber niemand hilft. Und die Profis oder Laien, die doch helfen wollen, werden oft noch durch Gaffer oder andere Störende daran gehindert. Die Lage der Pflege in Deutschland ist vielfach katastrophal.

Angefangen von fixierten und misshandelten Alten in Pflegeheimen über Pflegedienste, die vom Pflege-TÜV absurd falsche Noten erhalten, bis hin zu Immobilienspekulanten, die das große Geld mit betreutem Wohnen wittern: Es läuft gehörig etwas schief mit der Sorge um die Alten in unserem Land, wie etwa Pflegekritiker Claus Fussek aus München zu Recht nicht müde wird zu betonen. Deutschland steuert nicht nur auf einen Pflegenotstand zu (2030 werden nach aktuellen Schätzungen 500.000 Beschäftigte in der Langzeitpflege fehlen), sondern auch auf einen Kollaps des Sozialsystems, wenn es nicht gelingt, das Problem der Alterspyramide in den Griff zu bekommen. So lauten auch die Klagen vieler in der Pflege Beschäftigter.

Doch wird diesen Schrecken des Alters wirksam etwas entgegengesetzt? Nimmt die Politik ihre Verantwortung ernst? Eher nicht. Pflegereförmchen nach Pflegereförmchen sollen Politikergewissen und Öffentlichkeit beruhigen, der extra einberufene Pflege-TÜV und sonstige Qualitätsbemühungen haben sich als in vielen Fällen unwirksam, wenn nicht sogar als kontraproduktiv erwiesen. Weil sie durch überbordende Bürokratie auf der einen Seite oft ein falsches Bild zeichnen und auf der anderen von der ohnehin zeitlich knapp bemessenen Pflege abhalten.

Das Problem komplett durchdenken

Da trifft es sich gut, dass an diesem Dienstag ein Buch erscheint, das sich all dieser Probleme nicht nur annimmt, sie nüchtern analysiert und Änderungsvorschläge unterbreitet. Sondern dessen Autor auch in der Lage und willens ist, das Problem nicht nur anzureißen, sondern komplett zu durchdenken. Der diese Problematik in so einfacher wie logischer Weise Unbeteiligten und Profis nahebringt. Thomas Klie, Professor für öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft an der Evangelischen Hochschule Freiburg und einer der führenden Sozialexperten Deutschlands, beschreibt in seinem Buch "Wen kümmern die Alten? Auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft" (Pattloch Verlag, München, 2014) genau jene Mechanismen, die dazu führen, dass zwar wahnsinnig viel Geld in die Pflege gepumpt wird, aber oft viel zu wenig bei den wirklich Bedürftigen ankommt.

Er beschreibt den guten Willen und die Überlastung der Angehörigen als "größte Pflegestelle der Nation" - und als Dienstboten. In den Familien, die ihre Alten Zuhause pflegen, kümmern sich zumeist die Frauen, Töchter und Enkelinnen um ihre alten und pflegebedürftigen Familienangehörigen. Unentgeltlich. Noch ist das in den meisten Familien so, doch der Fachmann warnt: Mit zunehmender Berufstätigkeit der Frau wird sich das, der Statistik nach, wandeln.

Ohne Jammern, ohne Anklage

Auch in den Altenheimen und ambulanten Pflegediensten, wo Mitarbeiter oft zu untertariflichen Löhnen eine Arbeit verrichten, die - durch die vielen Pflegeskandale befördert - von der Gesellschaft obendrein als niedere Arbeit angesehen wird, fühlen sich viele Helfer ausgebeutet. Weil an ihren Lohnkosten und an ihrer Arbeitszeit das eingespart wird, was im Zuge einer zunehmenden Ökonomisierung der Pflegeindustrie als Rendite ausbezahlt wird. Klie hat diese Zusammenhänge klar und deutlich aufgeschrieben, nüchtern und analytisch, ohne ins Jammern oder in Anklage zu verfallen.

Denn er glaubt: Es geht auch anders. Und er zeigt, wo und wie. Dass etwa Kommunen, Städte und Dörfer ihre Verantwortung zurückerobern können und sollen, indem sie quartiernahe Angebote schaffen - und kleinere Heime bauen, wo Bewohner nicht nur als Nummer oder reiner Wirtschaftsfaktor, sondern wieder als Mensch gesehen werden. Würden zum Beispiel Kindergärten und Schulen nicht nur zu Weihnachten Besuche im Altenheim abstatten, könnte das zweierlei zur Folge haben: Erstens würde Kindern von Kleinauf die Angst vor dem Fremden und Alten genommen. Zweitens entstünde eine soziale Kontrolle in den Heimen. Denn wo niemand hinsieht, wo sich keiner hintraut, da passieren die schlimmsten Dinge. Und Klie macht deutlich, dass wir einen neuen Begriff des Alterns in unseren Köpfen verankern müssen.

Der alte Mensch muss sich rentieren

Weiterer Pluspunkt dieses Sachbuches ist sein Überblickscharakter. Die neuen gesundheitlichen und sozialen Herausforderungen des Alters, die Machenschaften einiger Krimineller in der Pflegeindustrie, viele Bemühungen engagierter Heimträger, die Lage in den Familien, in Heimen, beim Pflegepersonal, das umstrittene Thema Sterbehilfe und ein Ausblick auf eine nachhaltigere und wirksamere Pflegepolitik: All das wird nachvollziehbar erklärt und in einzelnen Kapiteln verdeutlicht. Vom pflegenden Angehörigen bis zum Senioren, vom Pflegedienstleiter bis zum Bürgermeister findet darin jeder, was er gerade braucht.

Klie schlägt unter anderem "Caring Communities" vor, und Sozialarbeiter, die sich um das Thema Wiedereingliederung der Alten in die sozialen Strukturen der Städte kümmern. Nachbarschaftshilfe, Selbsthilfegruppen, Hausgemeinschaften - genau wie sich Familien in der Betreuung von Kindern gegenseitig helfen, müssten auch die Alten wieder in den familiären und nachbarschaftlichen Zusammenhang eingebettet werden, unter Berücksichtigung der neuen Wohn- und Arbeitsformen. Es ist so vieles machbar und auch so vieles möglich. Wenn man will und sich darum kümmert, und nicht die Augen vor dem Problem der Überalterung unserer Gesellschaft verschließt.

Und auch an diesem Punkt gelingt es Klie, einereits die negativen Aspekte des Alterns und des Umgangs mit Siechtum und Krankheit sowohl privat als auch gesamtgesellschaftlich ausgewogen zu beleuchten. Andererseits thematisiert er die positiven Aspekte von Alter, längerem Leben, rüstigeren Rentnern und einer ganz eigenen Qualität des Seniorenwesens. Denn es sind und werden ja längst nicht alle Alten krank und zum Pflegefall. Noch nie in der Geschichte der Menschheit haben sich so viele alte Menschen so guter Gesundheit erfreut.

Die typische "Alterskarriere"

Nur leider fühlen sich viele von ihnen auch im Alter einem Nützlichkeitsgedanken unterworfen, dem die einen aufgrund langer Gesundheit folgen können, an dem aber viele andere aufgrund von Krankheit oder Einsamkeit zugrunde gehen.

"Aus den 'go go's' der über 60-Jährigen werden mit den Jahren die 'slow go's' der Endsiebziger bis zu den 'no go's' der Generation 85 plus", beschreibt Klie in dem Kapitel "Über der gewonnen Zeit hängt eine Bedrohung - 'Pflegefall' und Demenz als Schreckensszenario" die typische "Alterskarriere". Und plädiert dafür, den Begriff "Pflegefall" abzuschaffen, um dem Alter den Schrecken zu nehmen und einer automatischen Stigmatisierung des Alters durch Angst entgegenzuwirken.

Auch die Pflege sei an einem Punkt angekommen, an dem der Markt über die Moral herrsche. Deshalb sei es nun an der Zeit, mit Vernunft und Weitblick neue Modelle und ein neues Bewusstsein für eine sorgende Gesellschaft zu entwerfen, die ihre Alten nicht alleine lässt.

Man kann all dem nur zustimmen und sämtlichen Entscheidungsträgern in Politik, Familien und Gesellschaft, jedem einzelnen Menschen, der altert, also jedem, dieses Buch empfehlen.

"Die Idee der Kindheit ist eine der großen Erfindungen der Renaissance", schreibt Klie in seinem Vorwort. Und fügt ein Zitat von Neil Postman hinzu: "Vielleicht ihre menschlichste." Erst seit dem 19. Jahrhundert galten Kinder nicht mehr als kleine Erwachsene und genossen zunehmend den Schutz der Gesellschaft. Im 20. Jahrhundert war es an den Frauen, sich selbst gesellschaftlich zu emanzipieren. Nun, im 21. Jahrhundert, sind die Alten dran. Wir müssen ihnen - und uns - dabei helfen.

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