Emanzipation:Inderinnen wehren sich

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Rajini Singh träumte lange vom Boxen. Schließlich konnte sie ihre Familie überreden, sie zur Boxschule in Bhiwani gehen zu lassen. (Foto: Arne Perras)

In ihrem Land ist Gewalt gegen Frauen nicht selten. Doch nun schlagen manche von ihnen zurück. In einer berühmten Boxschule.

Von Arne Perras

Natürlich muss man auch das irgendwann fragen: Hat sie denn keine Angst um ihr Gesicht? Priyanka Chaudhary lächelt, als habe sie auf diese Frage schon gewartet. "Anfangs habe ich mir noch Sorgen gemacht", sagt sie. "Aber das legt sich mit den Jahren."

Die junge Inderin sitzt in ihrem Zimmer und bindet ihr dichtes dunkles Haar zusammen, sie muss gleich los zum Training. Aus ihrem ebenmäßigen Gesicht blicken wache braune Augen, ihre Lippen sind voll und wirken makellos. Auch der Nase sieht man auf den ersten Blick nichts an. Aber die 22-Jährige weiß es besser: "Meine Nase hat schon so viele Schläge abgekriegt, dass da drinnen alles plattgehauen ist."

Sie sagt das, ohne zu jammern. Eher so, als habe sie das abgehakt. "Wer boxt, muss was einstecken können", sagt sie. Aber austeilen, das kann sie auch.

An der Wand in ihrem Zimmer hängen mehrere Medaillen. Erst kürzlich kämpfte sie um Gold bei den regionalen Frauenmeisterschaften im Bundesstaat Haryana. Ihre Gegnerin brachte vier Kilogramm mehr auf die Waage und war ein Stückchen größer. Chaudhary hatte Respekt vor ihr, wollte das aber nicht zeigen. Sie wusste, dass sie in diesem Duell nur eine Chance haben würde: auf volles Risiko gehen. Also attackierte sie, ging von Anfang an aufs Ganze. Vielleicht hatte ihre Gegnerin mit so viel Dreistigkeit nicht gerechnet, vielleicht zermürbte sie auch der Kampfgeist der kleineren Athletin. Jedenfalls boxte sich Chaudhary unerschrocken durchs Finale. Und holte sich den Sieg.

Jedes vierte Mitglied in den Klubs ist mittlerweile eine Frau

Ein Freund hat ein wackliges Video von ihrem Triumph gemacht, sie hat es auf ihrem Smartphone gespeichert. "Schauen Sie, nicht einmal die Nase blutet", sagt sie und lächelt. Wenn die Inderin von ihren Kämpfen erzählt, liegt eine tiefe Zufriedenheit in ihrer Stimme. Ein Stolz, der stärker zu sein scheint als der Schmerz, der sich danach im Körper breitmacht. "Ich habe an mich geglaubt," sagt sie. "Deshalb habe ich gewonnen." Schon klar, sie braucht Kraft, Schnelligkeit, gute Reflexe. "Aber am wichtigsten ist, was sich da oben abspielt." Sie hält sich beide Zeigefinger an die Schläfen.

Junge indische Frauen entdecken das Boxen, sie steigen jetzt in den Ring wie Priyanka Chaudhary. Wer erkunden will, was sie treibt, welche Träume, Hoffnungen und Ängste sie haben, der setzt sich in der Hauptstadt Delhi in ein Auto und fährt dreieinhalb Stunden Richtung Nordwesten. Dort liegt im Bundesstaat Haryana die kleine Stadt Bhiwani. Die meisten Inder haben von diesem Ort schon einmal gehört. Dort sind einige der bekanntesten Boxer der Nation groß geworden, allen voran Vijender Singh, der als erster indischer Boxer eine olympische Medaille holte. Bronze in Peking 2008.

Durchschnaufen: Drei Boxer des Bhiwani Boxing Clubs machen eine Pause zwischen den Trainingskämpfen. (Foto: Andrew Caballero-Reynolds/Getty Images)

Zwar sind Männer, die hier auf Säcke, Pratzen und Punchingballs eindreschen, noch immer in der Überzahl. Doch immerhin: Jedes vierte Mitglied im Klub ist inzwischen eine Frau. Priyanka Chaudhary ist schon mehrere Jahre dabei, sie stammt aus einem Dorf namens Jodhpur, das eine halbe Tagesreise entfernt liegt. Deshalb teilt sie sich hier in Bhiwani mit fünf anderen Boxerinnen das obere Stockwerk eines schmucklosen Neubaus zur Miete. Vom Balkon ihrer Frauen-WG kann sie hinüberblicken auf eine klobige Halle, den Bhiwani Boxing Club oder kurz: BBC. Er ist für alle diese Mädchen und jungen Frauen zu einem neuen Zuhause geworden.

Der Abend dämmert, gleich müssen sie los. An der Halle wartet schon der Mann mit Stoppuhr und Trillerpfeife, Boxtrainer Jagdish Singh. Während Chaudhary ihre Bänder und Handschuhe einpackt, erzählt sie, dass sie früher Tennis spielte. Aber dann wollte sie es mit dem Boxen versuchen. Das hat ihr noch viel besser gefallen. "Es hat mich aufgebaut, ich fühle mich gut, wenn ich boxe", sagt sie. "Und ich hatte Glück, dass meine Eltern mich immer unterstützt haben. Es ist ihnen egal, was andere Leute denken."

In ihrem Dorf haben alte Männer das Sagen

Ihre Mitbewohnerin Rajini Singh, die vier Jahre jünger und 15 Kilogramm leichter ist als Chaudhary, hat andere Erfahrungen gemacht. Als Schülerin war sie auf ein Büchlein über den Box-Klub und seine Helden gestoßen und dachte: "Da muss ich hin." Doch wie sollte sie das anstellen? Sie steckte in einem kleinen Dorf im Bundesstaat Uttar Pradesh fest, wo alte Männer das Sagen haben, die nicht für progressive Ideen bekannt sind. Boxen? Ist dieses Mädchen noch ganz bei Verstand? Was sich Rajini Singh wünschte, galt dort als ganz und gar unschicklich, manche fanden es aufmüpfig. Es gab Gerede. Wie sollte so eine denn jemals später einen Mann finden?

Dass einige Jahre zuvor ihr Vater gestorben war, machte alles noch schwerer. Der Großvater meinte, sie müsse zu Hause bleiben, um ihre Mutter zu unterstützen und den Haushalt machen. Doch sie träumte vom Boxen. Also ließ sie nicht locker. Und schließlich, nach langem Bohren und Bitten, durfte sie gehen.

Als sie im Klub ankam, war alles ganz anders als gedacht: Das Essen schmeckte nicht. Immerzu Chapati-Fladen, niemals Reis. Und dann traf sie schon bald ein Schlag voll ins Gesicht. "Meine Nase blutete, es tat höllisch weh und ich wusste gar nicht, wie mir geschah." Ihre Begeisterung geriet ins Wanken. "Einmal dachte ich, dass ich nachts einfach davonrenne." Doch dann malte sie sich die Schmach aus, geschlagen nach Hause zu kommen. Den Spott, der sich über sie ergießen würde. Diesen Triumph wollte sie den Nachbarn nicht gönnen. Also hat sie weitergemacht.

"Wenn man hier gut ist, lohnt sich das auch", sagt die schlanke 18-Jährige. "Wenn ich ein paar größere Turniere gewinne, bekomme ich vielleicht einen Job beim Staat." Tatsächlich können erfolgreiche Boxerinnen mit einem Posten bei der Polizei oder bei der Eisenbahn rechnen. Ein sicherer Arbeitsplatz für Frauen, die aus der unteren Mittelschicht kommen.

Regen platscht auf den Vorplatz, als die Boxerinnen ihren Klub nach kurzem Fußmarsch erreichen, sie hüpfen über die Pfützen und schlüpfen durch die Glastür ins Innere der riesigen Halle, die in kaltes Neonlicht getaucht ist. Jetzt heißt es Aufwärmen, dann Seilhüpfen. Zwanzig Minuten später nieselt es nur noch leicht. Jagdish Singh geht hinaus, blickt zum Himmel und stößt in seine schrille Pfeife. Alle raus in den Hof. Aufstellung in Zweierreihe. Fäuste ballen. Und auf Kommando: links, rechts, links! "Denkt an eure Beinarbeit", brüllt der Coach , der auf- und abläuft, mal die Fußstellung eines Jungen korrigiert, mal einem Mädchen vormacht, wie ihre Fäuste noch besser fliegen können.

Wenn es ein Mädchen ist, wollen Eltern ihr Kind oft gar nicht bekommen

Im Gesicht von Rajini Singh kann man sehen, wie ernst sie das Training nimmt. Als sie nach Hause läuft, sagt sie: "Ich will allen zeigen, dass auch Mädchen etwas hinbekommen können." Dort, wo sie groß geworden ist, gibt es diese Möglichkeiten nicht. "Da werden Frauen unterdrückt."

Die Inder diskutieren darüber nun weit häufiger als früher. Fälle exzessiver sexueller Gewalt haben Proteste ausgelöst und vor allem die Mittelschicht des Landes aufgerüttelt. Auch in der Zeitung von Bhiwani sind in diesen Tagen düstere, wenn auch keineswegs außergewöhnliche Meldungen zu lesen. Die Polizei konfiszierte wieder einmal eine illegale Abtreibungsambulanz. Diese Busse fahren von Dorf zu Dorf auf der Suche nach Kundschaft. In den Autos werden Schwangere per Ultraschall untersucht, um das Geschlecht des ungeborenen Kindes herauszufinden. Wenn es ein Mädchen ist, wollen die Familien es häufig gar nicht erst bekommen, für einen sofortigen Eingriff kassieren die Betreiber umgerechnet 270 Euro.

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"Leider passiert das noch immer", sagt Raj Kumar Sherma. Er ist Lehrer im Ort und hat das obere Stockwerk seines Hauses an die Boxerinnen vermietet. Was die Lage der Frauen betreffe, könne man einen Wandel sehen, sagt er. Auch die Regierung tue mehr, um Frauen zu schützen. "Bhiwani braucht Töchter," steht auf Plakaten, die der Staat an Häuser und Bäume kleben lässt. "Aber es geht langsam", sagt der Lehrer. "Viele Familien haben das Gefühl, sie können das Brautgeld nicht bezahlen, wenn ihre Mädchen heiraten." Dieser Brauch ist ruinös, er schürt die Gefahr für die ungeborenen Mädchen im Mutterleib. Zwar ist das Brautgeld offiziell abgeschafft, aber es ist noch nicht verschwunden. Wegen der vielen Abtreibungen kommen im Bundesstaat Haryana auf 114 geborene Buben lediglich 100 Mädchen.

Der Lehrer ist stolz auf die Athletinnen, die unter seinem Dach wohnen. "Ich hoffe, dass sie ein wenig dazu beitragen, die Einstellungen der Gesellschaft gegenüber Frauen zu ändern", sagt er. "Aber nicht alle akzeptieren die Boxerinnen. Hier in der Gegend sind die Meinungen geteilt." Mädchen, die etwa der traditionellen Kriegerkaste wie den Rajputen angehören, haben es leichter.

Priyanka Chaudharys Erfolg ist bereits sichtbar: Sie hat mehrere Medaillen gewonnen. (Foto: Arne Perras)

Wer die boxenden Mädchen fragt, an wem sie sich eigentlich orientieren, stößt man immer wieder auf denselben Namen: Mary Kom alias Magnificent Mary. Diese Frau ist zwar nicht in Bhiwani groß geworden, aber sie ist für alle hier die Größte, weil sie schon so viele Titel für Indien geholt hat. Sie, die Tochter eines Reisfarmers, wurde fünf Mal Weltmeisterin. Und sie holte Bronze bei den Olympischen Spielen in London.

Priyanka Chaudhary hat schon mehrere Box-Workshops bei ihr belegt. "Sie ist sehr umgänglich und hat mir viele gute Tipps gegeben", schwärmt sie. Über das Leben von Mary Kom wurde kürzlich sogar ein Bollywood-Film gedreht. Chaudhary fand das Drama im Kino großartig: "Gut, einige Dinge im Film sind frei erfunden. Aber sonst ist er doch sehr realistisch". Jedenfalls hatte sie das Gefühl, dass sich vieles vertraut anfühlte. In einer Szene sagt der Trainer: "Wenn du die Konzentration verlierst, dann verlierst du auch deine Nase."

Nur ganz wenige werden es nach oben schaffen

Am Sonntag, wenn in Bhiwani kein Training ist, gehen die Boxerinnen manchmal alle zusammen ins Kino oder sie gönnen sich ein Eis. Aber das ist die Ausnahme, ansonsten achten sie genau darauf, was sie essen: Saft, Eier, Mandeln, Milch, Gemüse. Manchmal träumen sie in ihrer WG auch von Burgern oder einer Pizza. Aber die sind leider gestrichen. Wer nicht so gut kocht, macht die Wäsche und räumt auf. Sie sind ein eingespieltes Team. "Eine kleine Familie", wie Priyanka Chaudhary sagt. Dabei ist ihre WG nur mit dem nötigsten eingerichtet. Kleine Küche mit Tisch und Stühlen, fünf Betten, kahle Wände. Koffer und Taschen stehen in den Ecken. Viel ist das nicht, aber die Stimmung ist gut. So selbstbestimmt wie hier leben wohl nur wenige junge Frauen in Indien. Die Box-WG gibt ihnen Freiheit, auch wenn sie sich streng an ihr Training halten und auch noch lernen müssen. Die Jüngeren gehen untertags zur Schule, die Älteren machen Fernkurse am College.

Nur ganz wenige Boxerinnen werden es nach oben schaffen so wie Mary Kom. "Aber alle, die hier trainieren, bekommen einen erheblichen Schub für ihr Selbstvertrauen", sagt Trainer Singh. Er erinnert sich noch, wie 2002 alles angefangen hat. Da kamen vier Mädchen zu ihm und wollten unbedingt boxen. Er fand das anfangs keine gute Idee und lehnte ab, weil er sich das nicht vorstellen konnte. Dann kamen die Eltern und baten ihn noch einmal. Also versprach er ihnen eine Woche Probe. "Da hab ich gemerkt, dass sie wirklich gut waren. Auch ich habe dazugelernt." Seither ist Singh mit großem Einsatz dabei. Ohne ihn hätte sich das Frauenboxen in Bhiwani niemals so rasch entwickelt. Die Mädchen halten große Stücke auf ihn.

Und wie ist es mit der Sicherheit, so ganz alleine, fernab von der Familie? Boxerin Rajni Singh weiß, wie es sich anfühlt, von Männern blöd angemacht zu werden. Früher hatte sie davor Angst, jetzt nicht mehr. Sie erzählt, wie sie einmal frühmorgens mit Mitbewohnerinnen beim Joggen waren. Plötzlich tauchte neben ihnen so ein Typ auf dem Fahrrad auf und begann zu lästern. Sie sagten ihm, er solle sich verdrücken, aber er ließ nicht locker. Weil er nicht aufhörte, sie mit seinen dreckigen Sprüchen zu belästigen, holten die Mädchen ihn vom Fahrrad und verhauten ihn. "Nicht so richtig", sagt Rajini Singh. "Aber das wird er sich schon merken."

© SZ vom 19.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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