Bevölkerungsentwicklung:Die schönsten Projekte gegen Landflucht

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Da hilft keine Kinderprämie und kein Fahrtkostenzuschuss: Immer mehr Menschen fliehen in die Städte, während die Dörfer aussterben. Wie bringt man sie dazu, zu bleiben? Ein Überblick.

Von Julia Rothhaas

Landlust statt Landflucht: der Platz! Die Ruhe! Die Preise! Der Städter schwärmt so gerne vom Leben auf dem Dorf - und möchte dann doch lieber nicht hinziehen. Die Zahlen sind deutlich: Jeder sechste Deutsche lebt heute in einer Stadt mit mehr als einer halben Million Einwohnern. Leider will nicht mal der Dorfbewohner selbst bleiben. Sachsen-Anhalt, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und das Saarland werden bis 2030 in manchen Gegenden mehr als zehn Prozent ihrer Einwohner verlieren.

Um sie zu halten, bieten manche Dörfer Kinderprämien, Zuschüsse für das Baugrundstück und kostenlose Fahrkarten für Bus und Bahn an. Die Kassenärztliche Vereinigung versucht mit Umsatzgarantien, niederlassungswillige Ärzte aufs Land zu locken, Bauern verkaufen ihre Erträge gemeinsam im Dorfladen, und so mancher Bürgermeister hat morgens schon frische Brötchen vors Haus gefahren. Was motiviert Menschen sonst noch zum Kommen und zum Bleiben? Eine Spurensuche quer durch Europa.

Schloss Wunderkind

Ein verwunschenes Schloss inmitten eines großen Parks, wie idyllisch. Doch Schloss Quetz im Süden von Sachsen-Anhalt stand zehn Jahre lang leer, bis es 2005 wiederbelebt wurde. Die neuen Besitzer begannen, das klassizistische Gebäude zu renovieren, sie gründeten einen Lehrgarten, errichteten einen Hochseilgarten, verkaufen mittlerweile in ihrem eigenen Laden selbst gemachtes Apfelmus und Zucchiniaufstrich und beschäftigen Jugendliche in der Schreinerei und Gärtnerei.

Haus zu verschenken

Bürgermeister Giuseppe Ferrarello verschenkt in dem kleinen Ort Gangi auf Sizilien leer stehende Häuser. Die neuen Eigentümer verpflichten sich allerdings, die Häuser auch zu renovieren und müssen eine Bürgschaft in Höhe von 5000 Euro hinterlegen. Wenn der neue Eigentümer drei Jahre lang nicht mit den Renovierungsarbeiten beginnt, behält die Gemeinde das Geld ein.

Selbst ist das Kino

Damit es niemandem in dem kleinen Ort Schneverdingen in der Lüneburger Heide langweilig wird, haben die Bewohner ein modernes Kino mit 53 Sitzplätzen gebaut. Das Besondere: Das Kino Lichtspiel, errichtet mit der Hilfe von Sponsoren, wird von Ehrenamtlichen betrieben. Jeden Samstagabend gibt es Filme für Erwachsene, am Sonntag für Kinder.

Ihr Forum
:Leben in der Stadt oder auf dem Dorf - wo sehen Sie Vor- und Nachteile?

Die meisten Menschen zieht es in die Städte, wo Arbeit, Anonymität und Ablenkung ein erfülltes Leben verheißen. Auf dem Land gibt es wenig zu tun, seit Agrarkonzerne Zehntausende Hektar bewirtschaften und Ideen wichtiger sind als Produktion. Was spricht aus Ihrer Sicht dennoch für das Dorfleben?

Socken gegen Landflucht

Lange wollten die Bewohner von Viscri am Rande der Karpaten nur noch raus aus dem 450-Einwohner-Dorf, doch inzwischen ist das Wegziehen nicht mehr die einzige Alternative - vorausgesetzt, sie können stricken. Hier werden Socken, Filzschuhe und Wollpullover produziert, die dann im Dorf oder im Internet verkauft werden. Mit dem Erlös können die Frauen im Winter das fehlende Gehalt ihrer Männer, allesamt Saisonarbeiter, ausgleichen. Die Arbeiterinnen bekommen zudem Privilegien, die keine Selbstverständlichkeit in Rumänien sind: eine Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Der Verein "Viscri incepe" (Viscri legt los) zahlt Kindern außerdem die Fahrt mit dem Schulbus in den nächsten Ort. Zusätzlich erhält jede Familie im Todesfall ein Beerdigungsgeld.

Prost für alle

Ein Dorf ohne Wirtshaus? Geht gar nicht. Vor allem nicht in Bayern. Umso bedauerlicher, dass die "Post" in Altenau bei Oberammergau ein Jahrzehnt lang geschlossen war. Bis zum Sommer 2012, da hieß es: "Ein Dorf wird Wirt". Etwa 150 Bewohner renovierten in ihrer Freizeit monatelang das alte Gasthaus, heute kann man dort wunderbar essen und jeden ersten Donnerstagabend im Monat wird zusammen musiziert.

Sterben verboten

Fast zwei Drittel der Bewohner von Sellia in den Bergen Kalabriens sind Rentner, und wenn es nach Bürgermeister Davide Zicchinella geht, sollen sie alle mindestens 83 Jahre alt werden. Deswegen verfügte er per Erlass, dass alle Bürger regelmäßig zum Arzt und zu Vorsorgeuntersuchungen gehen müssen. Wer im neu errichteten Gesundheitszentrum des Ortes nicht mindestens einmal im Jahr auftaucht, muss eine Strafe in Höhe von 30 Euro bezahlen. Tanzkurse sollen der Gesundheit der Bewohner zugutekommen ebenso wie ein Besuch im Thermalbad, zu dem ein Gemeindebus die Bewohner regelmäßig fährt. Ob die Alten in Sellia bald so fit sind, dass sie auch den neu erbauten Kletterpark besuchen?

Design am Berg

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Vereinigt euch, riet ein Professor aus Zürich, und so legten die Bergbauern von Vrin im hintersten Winkel Graubündens ihre Wiesen zusammen, die sie bis heute in der Gemeinschaft bewirtschaften, und die Viehbesitzer gründeten eine Genossenschaft, um ihre Wurst und ihr Bündner Fleisch gemeinsam zu vermarkten. Das freie Bauland wurde aufgekauft, um es vor Spekulanten zu schützen, und Architekt Gion Caminada erbaute so schöne neue Häuser, Ställe und Hallen, dass er dafür gleich mehrere Preise gewann. Die Touristen kommen, die Bewohner sind geblieben - und für den Fall der Fälle hat Caminada auch ein wunderschönes Totenhaus gebaut, in dem die Bewohner ihre Verstorbenen aufbahren können.

Nachfolger gesucht

L'Isle-sur-Serein im Burgund braucht dringend einen neuen Friseur und in Nans-les-Pins rund 45 Kilometer südwestlich von Marseille wird ein Metzger gesucht. Damit das Leben in den kleinen Orten weitergeht, hat der französische Nachrichtensprecher Jean-Pierre Pernaut von TF1 die Aktion "SOS Villages" gegründet. Auf der Seite des Mittagsjournals werden kostenlos Jobs in allen Regionen Frankreichs ausgeschrieben.

Probewohnen auf dem Land

Wie fühlt es sich denn eigentlich an, das Leben auf dem Land? Wer das herausfinden will, kann sich für das mietfreie Probewohnen in einer Musterwohnung in Göhrde in der östlichen Lüneburger Heide bewerben ( land-kamerun.de).

© SZ vom 04.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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