Umstrittene Kunstaktion:Tote Flüchtlinge, mitten in Berlin

Das "Zentrum für politische Schönheit" will die Leichen von Flüchtlingen nach Berlin bringen. Skandal oder ursprüngliche Form des Theaters?

Von Peter Laudenbach

Für Heiner Müller bestand die wichtigste Aufgabe des Theaters darin, die Toten auszugraben, "wieder und wieder." Das Theater war für den Dramatiker ein Ort der Totenbeschwörung: Hier können die Lebenden den Toten begegnen, statt sie zu verdrängen und mit ihnen das, was ihnen angetan wurde.

Genau das haben die Menschenrechtsaktivisten des "Zentrums für politische Schönheit" in dieser Woche in Berlin vor, allerdings nicht auf der Bühne, sondern zum Beispiel vor dem Kanzleramt. Seit Jahren kombiniert das Zentrum für Politische Schönheit Spektakel, Skandal und Internetöffentlichkeit: Agitprop 2.0. Manches ist geschmacklos, fast alles drastisch, selten bleiben diese Aktionen unbeachtet.

Nun haben die Aktivisten auf Sizilien in einem Kühlhaus die in Müllsäcke verpackten, übereinander gestapelten Leichen von Flüchtlingen gefilmt, die auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ums Leben gekommen sind. Sie haben, zumindest behaupten sie das, zusammen mit Angehörigen, Imamen und Pfarrern zehn "menschenunwürdige Grabstätten geöffnet und die Toten exhumiert".

"Wir organisieren die Beerdigungen der Opfer im Herzen Europas"

Diese Exhumierungen wären, wenn es stimmt, natürlich illegal, eine Missachtung der Totenruhe. Nur kann man genauso umgekehrt fragen: Wie ist es mit der Würde der Toten vereinbar, dass sie in Müllsäcken gestapelt werden? Die ausgegrabenen Leichname nach Berlin zu holen und hier zu beerdigen, wäre ja auch nur eine hilflose Geste, den Menschen, die beim Versuch, sich nach Europa zu retten, ertrunken oder verdurstet sind, etwas von ihrer Würde zurück zu geben. So sehen es die radikalen Theatermacher.

"In einer groß angelegten Aktion werden Menschen, die auf dem Weg in ein neues Leben vor wenigen Wochen getötet wurden, direkt zu ihren bürokratischen Mördern gebracht. Wir organisieren die Beerdigungen der Opfer der militärischen Abschottung im Herzen Europas", verkünden die Aktivisten auf ihrer Webseite. Damit auch jeder weiß, wer mit den Mördern gemeint ist, zeigt ein Foto den breit lächelnden Innenminister Thomas de Maizière.

Differenzierung und fein abgestimmte Zwischentöne gehören nicht zu den Stilmitteln des Zentrums für Politische Schönheit. Aber klare, wütende Ankündigungen: "Ab diesem Monat lassen wir die Toten nicht mehr in Südeuropa auf Bergen und in Kühlkammern verrotten. Wir müssen die Toten sehen. Ihre letzte Ruhestätte soll unsere politische Unruhe werden."

Brachiales wie raffiniertes Spiel mit hoch aufgeladenen Symbolen

An diesem Dienstag nun sollen eine im Mittelmeer ertrunkene Mutter mit ihrem zweijährigen Kind auf dem Friedhof Berlin-Gatow bei einer muslimischen Beerdigung beigesetzt werden. Am Sonntag dann wollen die Aktivisten vor dem Kanzleramt einen Friedhof "für den unbekannten Einwanderer" errichten. Das ist ein ebenso brachiales wie raffiniertes Spiel mit hoch aufgeladenen Symbolen. Vielleicht braucht die Routine, die Gewöhnung an die Bilder vom Sterben an den EU-Außengrenzen genau solche Schockmomente. Die Aktion wirkt wie eine Bildstörung. Die Vorstellung eines friedlichen Landes, das die Menschenrechte achtet, wird durch die Frage ins Wanken gebracht, um welchen Preis und mit welcher Härte dieser Frieden und dieser Wohlstand verteidigt wird.

Philipp Ruch, der "künstlerische Leiter" des Zentrums für Politische Schönheit, hat beispielsweise für Bundespräsident Joachim Gauck nur Spott übrig. Vor ziemlich genau einem Jahr hatte Gauck gesagt, dass "die Bilder der Särge im Hangar des Flughafens von Lampedusa nicht zu dem Bild, das die Europäer von sich selbst haben", passen. Dazu Ruch: "Wenn Gauck das findet, muss er endlich den Innenminister entlassen. Oder er muss sein Bild von Europa korrigieren."

Am Donnerstag beraten die Ministerpräsidenten und Kanzlerin Angela Merkel beim Flüchtlingsgipfel über Unterbringung und Versorgung Hilfe suchender Menschen aus Syrien, Afrika, Libyen. Am Samstag, dem Welttag des Flüchtlings, werden ziemlich sicher wieder sehr betroffene Reden gehalten. Und genau in diesen Tagen zeigen die Menschenrechtsaktivisten vom Zentrum für Politische Schönheit auf denkbar drastische Weise die Folgen einer restriktiven Aufnahmepolitik: Tote in Müllsäcken.

Sie behaupten, sie würden echte Leichen einsetzen

Dabei speist sich das Skandalpotenzial vor allem aus einer scheinbar unerträglichen, aber dann doch wieder nicht so eindeutigen Regelverletzung: Die Menschenrechtsaktivisten behaupten, sie würden echte Leichen einsetzen. Nur: Ob es sich wirklich um Leichname oder nur um eine theatralische Aktion mit leeren Särgen handelt, lassen sie bewusst offen. Die Grenzüberschreitung, die Mehrdeutigkeit verstärken die Aufmerksamkeit. "Reicht es, die Bilder der Toten zu sehen, oder müssen wir mehr sehen?", fragt Philipp Ruch bewusst vage.

Für ihn ist der Tabubruch nur die Antwort auf die allgemeine Abstumpfung. "Geschmacklos ist nicht, dass wir die Toten nach Berlin holen. Geschmacklos ist, was die EU mit diesen Menschen gemacht hat", so Ruch. Der Aktionskünstler versteht sich als "glühender Verfechter der offenen Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit" - zum Beispiel zwischen der Fiktion, in den Särgen seien wirklich Tote, und der Wirklichkeit vor den Küsten Italiens und Griechenlands.

Die Rituale der Realpolitik virtuos in Frage gestellt

Schön früher haben sie die Rituale der Realpolitik mit spektakulären Regelverstößen virtuos in Frage gestellt. Im vergangenen Jahr schockierten sie Berlin, als sie die Kreuze der Mauertoten abmontierten. Auch damit - 25 Jahre nach dem Mauerfall - wollten sie an neue tödliche Grenzanlagen erinnern, für die auch Deutschland die Verantwortung trägt.

Vor drei Jahren riefen sie eine Belohnung von 25 000 Euro für Informationen aus, die Aktionäre des Panzerherstellers Krauss Maffei Wegman wegen Waffenhandel und Menschenrechtsverletzungen ins Gefängnis bringen. Sie recherchierten, wem das Familienunternehmen gehört und plakatierten gefälschte Fahndungsplakate der Großaktionäre - auch an deren Wohnorten.

Einer der Aktionäre, ein Kunstmaler mit bewegt linker Vergangenheit, der seine Firmenanteile geerbt hatte, distanzierte sich daraufhin in einem Fernsehinterview von der Geschäftspolitik des Unternehmens. Und er forderte den Bundespräsidenten öffentlich auf, eine Exportgenehmigung nicht zu unterschreiben, die die Ausfuhr optimierter Leopard-Panzer nach Saudi-Arabien zum Zwecke der Aufstandsbekämpfung erlauben würde. Der Panzerexport kam nicht zustande.

Wie es mit ihrer Aktion "Die Toten kommen" weiter geht, will Philipp Ruch vorerst nicht verraten: "Polizei, Innenministerium und Staatsschutz sollen nicht zu viel wissen."

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