Die Grenzen im Norden sind blockiert. Und Italien fühlt sich in diesen Tagen wieder isoliert, alleingelassen mit dem Strom der Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten. Frankreich sperrt in Menton, Österreich am Brenner.
Eine Zeitung schreibt von "Ohrfeigen", die Italien da von den europäischen Partnern verabreicht erhalte. Es sind Ohrfeigen aus Unverständnis und Egoismus, finden die Italiener. Als wollte der Norden Europas mit dem Drama, das sich im Süden des Kontinents zuträgt, nichts zu tun haben.
Italien verwaltet den Notstand so gut, wie es eben geht. Die Auffanglager für Asylsuchende sind voll, überall im Land. Die Behörden richten nun in aller Eile neue Notunterkünfte ein.
Am Mailänder Hauptbahnhof zum Beispiel brachten sie Flüchtlinge, die zuvor in den Gängen mit ihren wenigen Habseligkeiten campiert hatten, für einige Tage in leeren Ladenlokalen unter, deren Wände auf allen Seiten aus Glas gefertigt sind. Wie Aquarien für Menschen sehen sie aus, mitten in den Hallen von Milano Centrale.
Vor der Stazione Tiburtina in Rom stellte die Armee und das Rote Kreuz am Wochenende ein Zeltlager auf für Migranten, die davor im Bahnhof auf ihre Hoffnungsreise in den Norden gewartet hatten. Bald werden neue Plätze nötig sein.
Die letzte Pforte mit Zielsicht
Die eindrücklichsten Bilder aber kommen aus Ventimiglia, einer ligurischen Stadt an der Grenze zu Frankreich. Dort versuchen Flüchtlinge aus Eritrea, Syrien und Sudan den Sprung rüber nach Frankreich.
Die gefährlichsten Etappen ihrer Reise haben sie hinter sich: die Flucht aus Krieg und Misere, die Durchquerung der Hölle Libyens mit ihren Schleusern und Erpressern, die Überquerung des Mittelmeers zu Hunderten auf viel zu kleinen Schiffen bei Wind und Wetter. Es drängt sie nach Norden, wo manche von ihnen Familie haben - nach Frankreich, Holland, Belgien. Ventimiglia ist für sie wie die letzte Pforte, mit Zielsicht.
Doch auf der anderen Seite der Grenze, bei Menton, steht eine Mauer von französischen Gendarmen, die sie zurückdrängt. Immer wieder, tausend allein in den letzten Tagen. Einige Flüchtlinge schaffen es trotzdem. Sie bezahlen ihren Fluchthelfern 50 Euro, damit die sie auf abseitigen Wegen durch die Alpenausläufer fahren, die diesen schmalen Küstenstreifen zerfurchen. Ein Taxidienst gewissermaßen.
Sonderregime wegen G-7-Gipfel in Elmau
Die meisten aber bleiben hängen. Manche drohen damit, ins Meer zu springen, obschon sie nicht schwimmen können. Andere weisen das Essen zurück, das ihnen die Hilfsorganisationen reichen. Aus Verzweiflung und Protest.
Frankreichs Haltung gibt viel zu reden. Verhandelt wird die Frage, ob die Franzosen mit ihrer Grenzblockade tatsächlich mutwillig das Schengener Abkommen verletzen und wider die Genfer Konventionen Kriegsflüchtlingen die Hilfe versagen, wie das die italienischen Medien behaupten. Oder ob sie in diesen Tagen lediglich die temporäre Suspendierung "Schengens" ausnutzen, um einige Hundert Flüchtlinge abzuweisen.
Rund um den G-7-Gipfel im bayerischen Elmau waren die Grenzkontrollen im Schengener Raum nämlich aus Sicherheitsgründen wieder eingeführt worden. Das Sonderregime endet am Montag, 15. Juni.
Zieht Frankreich die Gendarmen auch danach nicht ab, droht ein diplomatischer Streit zwischen den beiden Nachbarländern. Es wäre nicht der erste in diesem Zusammenhang. Schon 2011, als viele Nordafrikaner vor den Wirren des Arabischen Frühlings flüchteten, verriegelte Frankreich den Grenzübergang in Menton. Es wurde zwar dafür gerügt, doch das kümmerte Paris nicht.
Es ist denn auch dieses Gefühl der mangelnden Solidarität, das Italiens Regierung so sehr ärgert. Man fühlt sich betrogen. Vor einigen Wochen hatte es noch den Anschein gehabt, als hätten sich die 28 der EU auf eine obligatorische Quotenregelung für die Verteilung der Asylsuchenden einigen können, um Italien zu entlasten.
Mittlerweile lehnt sich ein Dutzend Länder dagegen auf. Der Plan ist gefährdet und aus der Sicht der Italiener ohnehin unzureichend. In einem Gespräch mit der Sonntagsausgabe der Mailänder Zeitung Corriere della Sera sagte Premier Matteo Renzi: "Die Europäische Union ist nur bereit, 24 000 Flüchtlinge aufzunehmen, das ist wie eine Provokation."
Und die will man sich nicht länger gefallen lassen: "Wenn der Europäische Rat (beim Gipfel vom 25. und 26. Juni; Anm. der Red.) Solidarität beschließt, dann ist alles gut. Wenn er das aber nicht tut, dann haben wir einen Plan B." Was er damit genau meinte, sagte Renzi nicht. Doch es hörte sich wie eine Drohung an. Theoretisch wäre zum Beispiel möglich, dass Italien in einem solchen Fall beschließen würde, ankommende Flüchtlinge künftig gar nicht mehr zu registrieren.
Der Regelbruch hätte zur Folge, dass Dublin III nicht mehr greifen würde: Nach dem zunehmend problematischen Abkommen muss immer jenes Land der Union den Asylantrag eines Zugewanderten behandeln, in dem der Bewerber seinen Fuß als Erstes aufgesetzt hat. Nun, für fast alle Flüchtlinge, die seit einigen Jahren von den unkontrollierten Küsten des politisch zerrütteten Libyen übers Mittelmeer nach Europa aufbrechen, ist die erste Destination Italien - Lampedusa, Sizilien, Kalabrien, Apulien. Und so trägt Italien zumindest auf dieser, zuletzt stark frequentierten Route die Hauptlast.
Viel Hetze vom rechten Rand
Man hört, die italienischen Behörden würden bereits jetzt den einen oder anderen Ankömmling durchwinken, ohne seine Daten aufzunehmen, weil sie sonst unter dem stetig wachsenden Berg von Dossiers ganz kollabieren würden. Längst ist man unfähig, die gesetzlichen Fristen einzuhalten. 76 000 Asylanträge sind anhängig.
Renzis diplomatisches Lamento hat natürlich auch einen innenpolitischen Hintergrund. Vom rechten Rand, aus der trüben Propagandafabrik der Lega Nord und ihrem populistischen Anführer Matteo Salvini, kommt in diesen Zeiten viel Hetze. Salvini behauptet unter anderem, die Flüchtlinge brächten Krankheiten wie Krätze und Malaria nach Italien. Und obschon die Experten in den Medien die Behauptung dementieren, trägt auch sie zur Stimmungsmache bei.
Die Gouverneure der Lega in der Lombardei und im Veneto, die zu den reichsten Regionen Italiens gehören, weigern sich, mehr Flüchtlinge aus anderen Teilen des Landes zu übernehmen. Renzi hat also nicht nur Probleme mit unsolidarischen Partnern im Ausland, sondern auch mit unsolidarischen Statthaltern im eigenen Staat.
Relativierende Botschaft für das Heimpublikum
Für das Heimpublikum hat Renzi eine weitere Botschaft, eine relativierende. "Die Lage ist angespannt, klar, doch die Zahlen sind nur knapp höher als im vergangenen Jahr", sagte Renzi im Interview mit dem Corriere und rechnete ganz genau vor: Vom 1. Januar bis zum 13. Juni 2014 habe Italien 53 827 Flüchtlinge aufgenommen, während es 2015 bisher 57 167 gewesen seien. Viele, aber nicht zu viele.
Am anderen Ufer lockt Frankreich: Flüchtlinge auf einem Felsen bei Ventimiglia, Italien.
Ventimiglia ist für sie wie die letzte Pforte, mit Zielsicht. Doch zwischen ihnen und diesem Ziel steht eine Mauer aus Polizisten in Kampfanzügen.
Am Mailänder Hauptbahnhof campierten Flüchtlinge mit ihren wenigen Habseligkeiten auf den Gängen. Jetzt sind sie in leeren Ladenlokalen untergebracht.
Elend am Milano Centrale: Und plötzlich sind die Flüchtlinge ein kaum zu ignorierender Teil des Alltags vieler Italiener.
Vor der Stazione Tiburtina in Rom steht ein Zeltlager für Migranten, die davor im Bahnhof auf ihre Hoffnungsreise in den Norden gewartet hatten.
Turnhalle in Mailand als Bettenlager: An vielen Orten in Italien wird überlegt, wo und wie Notünterkünfte errichtet werden können.
Abgeblätterte Farbe der Hoffnung: Eine Flüchtlingsfrau am Bahnhof von Rom. Hinter ihr liegen: Krieg, Flucht, Misere, Angst. Vor ihr: Ungewissheit.
Essensausgabe in Mailand: Die Grundversorgung ist gesichert. Die Antwort, auf die Frage, wie es für die Flüchtlinge weitergeht, ist offen.
Wie Aquarien für Menschen: Die Auffanglager aus Glas im Mailänder Bahnhof.
Der Kommentator der Turiner Zeitung La Stampa erinnert daran, dass etwa die Türkei, ein Land mit 75 Millionen Einwohnern, in den vergangenen drei Jahren mehr als zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen habe. Nach Libanon, 4,5 Millionen Einwohner, reisten mehr als 1,5 Millionen ein: "Das ist", schreibt die Stampa, "als kämen über Nacht 30 Millionen Flüchtlinge zu uns nach Italien."