Türkische Chronik XLVIII:Warum im Ausland lebende Türken an ihrer Liebe zu Erdoğan festhalten

Erdoğan Anhänger in Berlin Deutschland

Anhänger des türkischen Präsidenten Erdoğan erinnern am 15. Juli in Berlin an den Putschversuch ein Jahr zuvor.

(Foto: Getty Images)

Die Gründe dafür finden sich nicht in Deutschland, sondern in der Türkei.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

"Lassen Sie uns ehrlich sein: Die Demokratie liegt im Sterben. Und das eigentlich Bestürzende daran ist, wie wenigen Menschen das Sorge bereitet", schrieb Paul Mason, Experte für soziale Gerechtigkeit, jüngst im Guardian: "Stattdessen zergliedern wir das Problem. Die Amerikaner sorgen sich naturgemäß um Trump und nicht um das Verbiegen der am meisten fetischisierten Verfassung der Welt hin zu einer kleptokratischen Herrschaft. Und die EU-Politiker äußern höflich diplomatisches Unbehagen, wenn der Parteiapparat des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ihre Demokratien demütigt. Es gleicht den frühen dreißiger Jahren: der Tod der Demokratie scheint sich immer woanders zu ereignen."

Am Beispiel der Türkei finden wir weitere Aspekte: Warum bewundern so viele Türken Erdoğan? Egal wie irrational und selbstzerstörerisch sein Regieren auch wird. Ein holländischer Freund fragte mich, wie es möglich sei, dass sich diejenigen Türken, welche unter sicheren, vorhersehbaren und florierenden Verhältnissen in Westeuropa leben, kein bisschen um ihre Landsleute zu Hause kümmern, wo diese so unmenschlich behandelt werden? Im Gegenteil: Was lässt diese Leute sogar noch auf ihre Gastländer schimpfen oder auf diejenigen, welche gegen die Drangsalierungen in der Türkei protestieren?

Erdoğan weiß, dass seine Regentschaft seinen Anhängern eine Gelegenheit zur Rache bietet für das, was sie als Dekaden kultureller Apartheid betrachten: die Demütigung der religiösen Gemeinschaften durch die Eliten. Kurz nach der Gründung der Republik, also nach der Abschaffung des Kalifats, mussten sich die meisten religiösen Gruppen in den Untergrund zurückziehen. Für ihre Enkel symbolisiert das Wirken der Regierungspartei AKP unter Erdoğan einen kollektiven Racheakt.

Die Angst der Massen steht jeder Aussicht auf eine Rückkehr zur Demokratie entgegen

Doch je länger die Herrschaft der AKP dauert, desto schwieriger wird ein Machtwechsel durch demokratische Mittel, denn die Massen fürchten, dass dies eine neuerliche Periode der Unterdrückung zur Folge haben könnte. Diese Angst steht jeder Aussicht auf eine Rückkehr zur Demokratie entgegen und lässt all das erodieren, was von Moral und Mitgefühl innerhalb der Gesellschaft übrig geblieben ist.

Doch es gibt weitere Gründe, warum die Unterstützung für Erdoğan unverändert groß ist. Zuletzt stieß ich auf der Nachrichtenseite Artı Gerçek auf einen Text der in Deutschland studierenden Ayşe Çavdar. Darin berichtet sie von einem Gespräch mit einem türkischen Taxifahrer. Beide sind sich zunächst einig, dass der Putsch vor einem Jahr inakzeptabel ist. Doch sobald die AKP Thema wird, sind die Studentin und der Taxifahrer plötzlich völlig konträrer Meinung. Dabei ist Folgendes bemerkenswert: Der Taxifahrer erhebt keinen Einspruch, wenn Çavdar feststellt, wie korrupt und unmoralisch die AKP ist, sondern kommentiert dies nur mit Phrasen wie "Ja, aber wer vor ihnen war das nicht?" Çavdar zeigt sich von diesem Fatalismus erschüttert, doch der Taxifahrer fährt fort: "So stehen nun mal die Dinge in der Welt. Warum sollten wir Muslime erwarten, dass sich daran etwas ändert?"

"Genug ist genug, sagt Erdoğan. Er denkt und spricht wie wir"

Er erzählt, dass er in den letzten 20 Jahren dreimal von "Islamischen Firmen" betrogen worden sei und darüber seine gesamten Ersparnisse verloren habe. Deswegen arbeitete er heute als Taxifahrer. Worauf Çavdar entgegnet: "Aber das ist doch ein Grund mehr, nicht jene Partei zu unterstützen, in welche dieses Geld geflossen ist, sondern gegen diese zu opponieren?" Zu ihrer Überraschung stimmt er ihr zu, nur um anzufügen: "Endlich haben Muslime in der Türkei wieder Luft zum Atmen."

Çavdar fasste zusammen: "Er akzeptiert, dass die Macht der AKP auf seinen Ersparnissen sowie der seiner Freunde und Nachbarn gründet; auch, dass sein persönliches Leben aufgrund dieses für Korruption und Gesetzlosigkeit verwendeten Kapitals den Bach hinunter gegangen ist. Seine Entscheidungen traf er dabei einzig aus religiöser Sorge, sodass er trotz des Wissens um die Ungerechtigkeiten des Staates dennoch die AKP unterstützt. Denn er glaubt fest daran, dass aus diesem Bösen etwas Gutes entstehen wird."

Dieser Mann repräsentiert einen unheilbaren Erdoğan-Bewunderer fernab der Türkei. Doch es gibt auch andere, wie jenen Lebensmittelhändler in Berlin, mit dem ich sprach. Obwohl wohlhabend und nur einmaliger Erdoğan-Wähler, wollte er nicht über dessen internationale Isolation diskutieren. "Genug ist genug, sagt Erdoğan. Er denkt und spricht wie wir, was bedeutet, dass ihn viele im Ausland mögen." In Sätzen wie diesen scheinen exportierte Rachegefühle von Auslandstürken gegen die Eliten in der Türkei auf.

In der Frühphase der AKP-Regentschaft ging es noch um eine Form von Gleichheit für die fromme Mittelschicht. Das ist lange vorbei. Durch Erdoğans spaltende Politik ist diese Sorge um Gleichheit in ein Gefühl kollektiver Überlegenheit umgeschlagen. Dabei ist diese Unterstützung komplett abhängig von den Beschäftigungszahlen sowie sozialen Privilegien etwa im Wohnungswesen oder in der Gesundheitsversorgung. Sobald die Wirtschaft stockt, wird diese Mittelklasse bar jeder Agenda und wirklicher Moral bereit sein, der Macht, die sie ernährte, den Rücken zu kehren. Mit Demokratie aber hat das nichts zu tun. Alles steht und fällt mit dem Vorhandensein einer wohlwollenden Führung; und was wir derzeit beobachten, ist ein freier Fall, überall.

Der Autor ist Journalist und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Maximilian Sippenauer

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