Soziale Gerechtigkeit in Deutschland:Dummköpfe ante portas

Soziale Gerechtigkeit in Deutschland: Archivbild 2011: Am Rande einer Demonstration der Initiative 'Echte Demokratie' in München.

Archivbild 2011: Am Rande einer Demonstration der Initiative 'Echte Demokratie' in München.

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Vom Kindergarten bis zum Erbe - Ungerechtigkeit. Zwei Bücher beleuchten das deutsche Klassensystem aus unterschiedlicher Perspektive. Die Autoren kommen zum selben Ergebnis.

Von Alex Rühle

Der eine geht das Problem von unten an, aus der Sicht und Schicht der Arbeiter, die andere von oben, aus der Perspektive der Reichen. Marco Maurer untersucht den biografischen Anfang, Julia Friedrichs die finanziellen Folgen des Endes. Und beide, das ist das Verstörende an ihren soeben erschienenen Büchern, beide kommen zu demselben Schluss: ob nun in der Schule oder im Beruf, es ist egal, wie sehr man sich anstrengt. Am Ende zählt einzig die Herkunft. Willkommen in der BRD 2015, willkommen in der Ständegesellschaft 2.0.

Eine der zentralen Ungerechtigkeiten in diesem Land lässt sich in drei Zahlen zusammenfassen: 100 - 77 - 23. Von 100 Akademikerkindern beginnen 77 ein Hochschulstudium, in Nicht-Akademiker-Haushalten schaffen es nur 23 Kinder an die Universität. Die Zahlen stammen aus der aktuellen Sozialstudie des Deutschen Studentenwerks. Der Journalist Marco Maurer fand sie in der Zeitung. "Auf einmal las ich nicht mehr das Ergebnis irgendeiner Studie. Ich las etwas über mich selbst. Meine Biografie in zwei Zeilen gepresst."

Vater Kaminkehrer, Mutter Friseuse: Klar, die Realschule ist nichts für ihn

Maurer ist das, was ein "Arbeiterkind" genannt wird, wobei er den Begriff nicht leiden kann, schleppt man so doch die eigene Herkunft wie eine Eisenkugel hinter sich her. Vater Kaminkehrer, Mutter Friseurin, glückliche Kindheit in einem Dorf in Bayrisch-Schwaben, jedenfalls bis zur sechsten Klasse, bis zu jenem Tag, an dem seine Mutter in die Sprechstunde ging und sein Lehrer ihr sagte: "Marco sollte auf der Hauptschule bleiben, die Realschule ist nichts für ihn."

Als die Mutter den plötzlichen Leistungsabfall ihres Sohnes erklärte, Scheidung, Umzug, Schulwechsel, ob er nicht doch bitte den Aufnahmetest für die Realschule machen könne, entgegnete der Lehrer: "Das hat doch keinen Wert bei ihm, Frau Maurer." - Voilà, der deutsche Bildungsrassismus, zusammengefasst in einem einzigen Satz, ein Elfjähriger, der keinen Wert hat.

Einzelschicksal? Von wegen: Das Mainzer Soziologie-Institut schreibt, dass Lehrer in Deutschland, verglichen mit anderen Ländern, "besonders schicht- und ethnienspezifische Empfehlungen aussprechen". In Bayern besuchen Akademikerkinder sechsmal häufiger das Gymnasium als Kinder aus bildungsfernen Milieus. Akademikereltern setzen sich gegen Versetzungen ihrer Kinder in die Real- oder Hauptschule zur Wehr, Eltern aus bildungsfernen Schichten akzeptieren sie - Maurer machte nach dem Werturteil seines Lehrers erst mal nur den Hauptschulabschluss. Kurzum: "Fakt ist, dass unser Bildungssystem Abgrenzung stabilisiert."

Der Satz stammt vom Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Marco Maurer zitiert ihn genauso wie all die oben erwähnten Studien in seinem Buch "Du bleibst, was du bist - Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet" (Droemer, 288 Seiten). Maurer hat sich dafür auf eine Reise durchs deutsche Bildungssystem gemacht, er hat mit Schulforschern und Neurologen gesprochen, er hat Parteiprogramme gewälzt, hat über die gähnende programmatische Leere in Sachen Chancengleichheit bei der SPD gestaunt und erlebt, wie beim Bildungsbrunch der Kölner FDP die rhetorischen Zugbrücken hochgezogen wurden (das Gymnasium als Hort der Elite ist in Gefahr, Dummköpfe ante portas).

Ein Kapitel, das einem die Tränen in die Augen treiben kann

Und er hat ein paar Tage lang eine Schule in Finnland besucht, ein Kapitel, das einem die Tränen in die Augen treiben kann: zwei Lehrer für zehn Schüler, Migrantenkinder sind nicht in Resteschulen ausgelagert, sondern sitzen mit im Unterricht. Alle Materialien sind umsonst. All das hat man schon gelesen. Neu ist der Blick der Finnen auf Deutschland. Von Helsinki aus wirkt das deutsche System wie irgendeine mittelalterliche Erfindung, ungerecht, statisch, feudalistisch. Eine Lehrerin, die länger in Deutschland war, kann bis heute nicht fassen, dass Gymnasiastenkinder nur mit anderen Gymnasiasten befreundet waren. "In Finnland sind wir alle nur Menschen, alle sind gleich, aber in Deutschland gibt es diese Art von Menschen und jene Menschen, mindestens zwei, eher drei Gesellschaftsgruppen."

Immer wieder gibt es in diesem Buch den verwunderten Blick von außen: Franzosen, die darüber staunen, dass bei uns nicht alle Krippen umsonst sind, schließlich öffnet sich die Bildungsschere schon in einem Alter, in dem die Kinder noch nicht mal "Schere" sagen können. Oder die Hirnforscherin von der ETH Zürich, die sagt, eine Begabungsprognose in der vierten Klasse sei "hochgradig unseriös". Und dann ist da noch der finnische Lehrer, der Maurer einmal abends in die Stadt bringt und zum Abschied fragt: "Weißt du eigentlich, dass ihr Deutschen genau das Schulsystem habt, das wir vor 40 Jahren abgeschafft haben, weil es uns zu altmodisch und zu ungerecht vorkam?"

Marco Maurer

Marco Maurer, Autor des Buches "Du bleibst, was du bist".

(Foto: Droemer Knaur /Markus Röleke)

Doch, Maurer weiß das sehr genau. Er hat eine furiose Abrechnung mit unserer bildungspolitischen Klassengesellschaft geschrieben, die traurige Chronik eines Landes, das Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern in den Siebziger- und Achtzigerjahren echte Aufstiegschancen bot, aber dieses große bildungspolitische Kapital wieder verspielt hat. "Damals", so Klaus Wowereit, "wussten alle: Wer sich anstrengt, wird belohnt. Sozialer Aufstieg durch Bildung wurde 'machbar'."

Warum Lebenschancen wieder mehr vom Geldbeutel der Eltern abhängen

Maurer macht sichtbar, warum Lebenschancen heute wieder viel mehr vom Geldbeutel der Eltern abhängen: Unbezahlte Praktika sind ein unsichtbarer Selektionsmechanismus, man muss sie sich nämlich leisten können. Und eine Studie der Universität Paderborn belegt, dass Studierende aus einfachen Verhältnissen heute kaum eine Chance haben, Karriere an der Uni zu machen: Da man anfangs nur schlecht bezahlte Zeitverträge im Mittelbau bekommt, braucht es jahrelange ideelle und finanzielle Unterstützung durch die Familie. Die Soziologin Angela Graf glaubt deshalb, dass sich in Zukunft nur "Menschen mit Kapital im Rücken" noch eine Karriere im Wissenschaftsbetrieb leisten können.

Das Kapital im Rücken, vulgo: Erbe. Julia Friedrichs stellte mit Anfang 30 fest, wie sich ihr Freundeskreis auf einmal diskret entmischte. Alle hatten bis dahin ähnliche Jobs, alle waren aus der Provinz nach Berlin gezogen, um sich als urbane Nomaden neu zu erfinden. Familie, Herkunft, Elternhaus, all das kam nur in skurrilen Anekdoten vor. Dann aber zogen die einen plötzlich in Townhouses, die 600 000 Euro kosten, während die anderen in ihren Mietwohnungen blieben. Die einen hatten geerbt, die anderen nicht. Und alle berufliche Anstrengung wirkte plötzlich wie biografische Fassade, Zeitvertreib, Hobby.

Schulden erbt die Allgemeinheit, Reichtum erbt das eigene Kind

Darüber reden wollte keiner so richtig, denn Erben ist ein Tabuthema. Nicht mal die Parteien oder Behörden wissen genau, wie viel momentan vererbt wird. Sicher ist nur: Es ist enorm viel. Die größte Erbschaftswelle der Geschichte steht bevor, je nach Schätzung werden zwischen zwei und vier Billionen bis zum Jahr 2020 weitergegeben. Jährlich sind das mindestens 250 Milliarden Euro, fast so viel wie der gesamte Bundeshaushalt. Die Wirtschaftswundergeneration hinterlässt einen verschuldeten Staat. Und sie hinterlässt gleichzeitig das größte Privatvermögen aller Zeiten. Die Schulden erbt die Allgemeinheit. Den Reichtum erbt das eigene Kind.

Julia Friedrichs hat für ihr Buch "Wir Erben" (Berlin Verlag, 319 Seiten, 20,60 Euro) in der Welt dieser "unsichtbaren Parallelgesellschaft" recherchiert, wie eine Bosch-Erbin ihr eigenes Milieu nennt, einer Welt, die selbst einige ihrer Vertreter mittlerweile beunruhigt als "feudalistischen Kapitalismus" bezeichnen.

Das Beunruhigende daran ist, dass die Politik seit Jahren nach Kräften mithilft, diese Umverteilung möglichst unsichtbar über die Bühne gehen zu lassen. Deutschland ist eine Steueroase - wenn man reich ist. Wenn man erbt, ist es ein Paradies. Deutschlands Vermögende tragen viel weniger zum Steueraufkommen bei als Millionäre in Frankreich oder Großbritannien. "Beate", eine der von Friedrichs porträtierten Erbinnen, hat deshalb auch ein schlechtes Gewissen und wünscht sich eine höhere Erbschaftsteuer: "Wenn man von dem Erbe ganz viel in Bildung investiert, dann könnte man die Gesellschaft schon zum Guten verändern."

Die Politik traut sicht nicht einmal, über die Schieflage zu diskutieren

Könnte man. Die kleinen Marco Maurers unserer Tage wären wahrscheinlich dankbar. Dazu müsste die Politik eine solche Umverteilung aber erst mal wagen. Danach sieht es nicht aus. Den Appell, den der Millionär Dieter Lehmkuhl 2009 verfasste und in dem er forderte, jeder, der mehr als 500 000 Euro besitzt, solle zwei Jahre hintereinander je fünf Prozent seines Vermögens zahlen, unterzeichneten 64 Vermögende. 64 von 2,2 Millionen.

Julia Friedrichs

Julia Friedrichs, Autorin von "Wir Erben".

(Foto: Gerrit Hahn)

Was aber heißt es für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, wenn zusehends mehr Kinder das Gefühl bekommen, eh keine Chance zu haben? Wenn immer mehr Erwachsene spüren, dass der Wohlstand nach einem Prinzip verteilt wird, das den Leistungsidealen der Marktwirtschaft und dem inhärenten Gerechtigkeitsversprechen des Sozialstaats Hohn spricht? Und wenn sich die Politik nicht mal traut, über diese eklatante Schieflage offen zu diskutieren? Der SPD-Politiker Lothar Binding sagte Julia Friedrichs bedauernd, das Thema sei einfach nicht vermittelbar, "die Debatte würde sofort in Richtung Neid und Abzocke driften."

Stimmt leider: Nachdem Die Zeit ein Kapitel aus "Wir Erben" abgedruckt hat, gab es mehrere Leserbriefe, die belegen, dass viele Erben den Sozialvertrag längst aufgekündigt haben. Die Leser schrieben, ihr ganzer Reichtum sei durch Leistung, Mut und Geschick gewachsen und werde zu Recht vererbt, "der Staat ist nur gierig auf die Erbschaftsteuer", es sei empörend, dass die Zeit einstimme "in den Chor jener, die Neid auf diese Erben erzeugen wollen". Kein gutes Zeichen, wenn die bloße Frage nach Gerechtigkeit sofort als Neid denunziert wird.

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