Mahnmal für die NS-"Euthanasie"-Morde:Ausrufezeichen aus blauem Glas

Mahnmal für Euthanasie-Morde in Berlin eingeweiht.

Das Publikum soll erkennen, "da steht was Enormes": das Mahnmal für "Euthanasie-Morde" in Berlin.

(Foto: dpa)

In Berlin gibt es nun ein neues Mahnmal für die Euthanasie-Opfer der NS-Zeit. Es wurde ersehnt als ein Ausdruck des Gedenkens an die Ermordeten, der eine genauere Ästhetik haben sollte als das alte Erinnerungsmal. Aber was drückt die Wand aus blauem Glas aus?

Von Stephan Speicher

Mit dem Zweiten Weltkrieg, dem Überfall auf Polen, begann die systematische Ermordung der Patienten in den Heil- und Pflegeanstalten. Der Plan war schon früher gefasst worden, aber Hitler scheute zunächst das Aufsehen; der Krieg erst, so sein Kalkül, werde die Tötung der Geisteskranken in den Hintergrund treten lassen.

Und so lief im Herbst 1939 die "Aktion T4" an, die 70 000 Menschen das Leben kostete, bis sie 1941 gestoppt wurde. Zu groß war die öffentliche Unruhe geworden, vor allem durch kirchliche Proteste. "Wilde" Ermordungen in den Heil- und Pflegeanstalten gingen allerdings weiter.

In Berlin wird seit Ende der 1980er-Jahre an diese Verbrechen erinnert. Vor der Philharmonie, an jener Stelle in der Tiergartenstraße 4, wo die Villa stand, in der die Aktion T4 - daher auch ihr Name - geplant wurde, gedenkt eine eindrucksvoll verfasste Inschrift des Geschehens, daneben steht eine große Skulptur Richard Serras, zwei hohe, leicht gekrümmte Stahlplatten, die eine Art Hohlweg bilden.

In den vergangenen Jahren aber erschien das manchem zu wenig. Und wirklich hatte Serra seine Skulptur, "Berlin Junction", für einen anderen Ort geschaffen. Sie stand zunächst am Gropiusbau, Serra bot sie dem Senat zum Kauf an, der griff zu und widmete sie dem neuen Zweck. Demnächst wird sie womöglich wieder versetzt, denn inzwischen ist ein neues Mahnmal geschaffen.

Wenige Meter entfernt hat die Architektin Ursula Wilms zusammen mit dem Künstler Nikolaus Koliusis und dem Landschaftsarchitekten Heinz W. Hallmann auf einer sanft geneigten Fläche eine Wand aus blauem Glas errichtet.

Ein Ausruf ist die Glaswand sicherlich

Nachdem die Skulptur Serras kritisiert wurde als zu unspezifisch, als eine Form der Kunst am Bau der Philharmonie - und diese Kritik war nicht an den Haaren herbeigezogen -, stellt sich jetzt die Frage, was das neue Kunstwerk leistet.

Es wurde ersehnt als ein genauerer ästhetischer Ausdruck - aber was drückt es aus? Ursula Wilms, die Architektin: "Ganz klar, dass das auffallen sollte." Das Publikum soll erkennen, "da steht was Enormes". Die Aufmerksamkeit wird erregt, ein Ausrufezeichen ist die Glaswand sicherlich. Aber was ist es, was das Ausrufezeichen markiert? "Wir wollten immer beides", sagt Wilms, die "Täter- und die Opferseite zum Ausdruck bringen."

Für die alte Kunst war es kein Problem, den leidenden Märtyrer und die Folterknechte darzustellen. Aber wie kann das in einem abstrakten Objekt gelingen?

Glätte weist Assoziationen ab

Dessen eingesenkte Grundfläche, so heißt es, steht für den "negativen Eindruck", den die Euthanasie des NS-Staates in der Geschichte hinterlassen habe. Das blaue Glas aber soll Assoziationen von Himmel, Luft, Leben wachrufen wie von "Ferne, Kühle und damit Sehnsucht, Hoffnung, Traurigkeit".

Himmel, Hoffnung, Traurigkeit - daran lässt sich auch denken, wenn der Bruder bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Mit den Massentötungen "lebensunwerten Lebens" haben diese ästhetischen Mittel wenig zu tun.

Die Skulptur Serras mit den sich zusammenschiebenden Stahlplatten kann an das "Und wenn ich auch wandre im düsteren Tal" erinnern. Die neue Glaswand in ihrer Glätte weist selbst Assoziationen ab. Wie sollte man da an die Opfer in ihrer Verlassenheit, die fähig-ungerührten Täter, die Idee vom endlich ertüchtigten Volkskörper denken?

Aber als Zeichen im Stadtraum weist die Wand auf die Dokumentation hin. Denn vor dieser Wand, im Abstand weniger Schritte, erstreckt sich ein lang gezogenes Pult, auf dem das Publikum über die Aktion T4 unterrichtet wird.

Dieses kleine Freilichtmuseum mit Erläuterungen und Quellen zum Thema ist vorzüglich gelungen. Vor allem wird nicht verschwiegen, dass die Verbrechen eine nichtnationalsozialistische Vorgeschichte hatten.

Mutiger Konjunktiv

In seinem Buch "Das Problem der Abkürzung ,lebensunwerten' Lebens" hatte sich der Arzt Ewald Meltzer, Leiter einer Erziehungsanstalt für behinderte Kinder, 1925 gegen die Euthanasie ausgesprochen. Zugleich aber notierte er, dass die Eltern seiner Schützlinge das oft anders sahen. Danach befragt, meinten etwa drei Viertel von ihnen, ein schmerzloser Tod sei das beste für die Kinder.

Es waren vor allem die Kirchen und ihre Gläubigen, die gegen die Tötungen protestierten. Bewegt liest man die Todesanzeige, die eine Mutter 1940 aufgab: "Gestern bekam ich die Nachricht aus der Landesanstalt Grafeneck, dass mein lieber, kranker Sohn Friedjof Wagner im Alter von 37 Jahren plötzlich gestorben und schon eingeäschert sei. Aber er ist nun in der oberen Heimat und darf sehen, was er geglaubt hat."

Der Mut, mit dem die Mutter durch die Wahl des Konjunktivs ausspricht, dass sie belogen wurde, nötigt Bewunderung ab. Kurz darauf wurden solche Traueranzeigen verboten.

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