Little Britain:"O", wie schön ist Gill Sans!

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Wer will schon etwas über Johnston und Gill wissen? Gut, die beiden gelten als wunderschön, aber der stets erstaunliche G. weiß mehr: Gill jedenfalls hatte ein skandalöses Sexleben.

Von Christian Zaschke, London

Der stets erstaunliche G. gehört zu den größeren Bescheidwissern unter meinen Freunden. Wenn ich zum Beispiel den Londoner Stadtteil Holborn so ausspreche, wie er geschrieben wird, korrigiert G. mich freundlich lächelnd: "Man sagt: Hoben." Wenn ich in einem Anfall von Nachlässigkeit im Namen des Kaufhauses Fenwick, wo ich kürzlich ein Einstecktuch erstand, ein wirklich klitzekleines W mitklingen lasse, lächelt G. erfreut: "Fennick. Man sagt Fennick, das W ist stumm. So wie bei Chiswick - man spricht es Tschisick."

Nachdem in dieser Woche die Schriftspezialisten der SZ hier angerufen hatten, bat ich ihn umgehend um ein Treffen. Die überraschend mächtigen Schriftspezialisten hatten nämlich dekretiert, dass es in dieser Kolumne um eine Schrift namens Johnston gehen sollte. Sie hielten das für eine dermaßen gute Idee, dass sie versprachen, die Kolumne diesmal sogar länger zu machen als sonst.

Ich wusste über die Johnston lediglich, dass sie in der gesamten Londoner U-Bahn verwendet wird. Mehr nicht. Dies teilte ich den Schriftspezialisten in aller Form mit. Sie flöteten vollkommen unbeeindruckt: "Die Johnston. Allein dieses kreisrunde O. Sie ist wunderschön. Schreiben Sie das!" "Ihr habt sie wohl nicht alle", sagte ich. "Doch", erwiderten die Schriftspezialisten.

Es ist stets sehr lehrreich, mit G. in der Stadt unterwegs zu sein. Entweder es passiert etwas Erstaunliches, oder G. hält, wenn das Erstaunliche ausnahmsweise woanders passiert, anschauliche, angenehm mittellange Vorträge. G. weiß so ziemlich alles über London, er kennt jede Gasse, jede Geheimtür, jeden Trick. Vor allen Dingen weiß er alles über die U-Bahn. Wenn man mit ihm an der Station Chiswick Park (genau: Tschisick Park) aussteigt, sagt er beiläufig: "Entworfen von Charles Holden." Wenn man mit ihm in der Bakerloo-Linie sitzt, referiert er über das phantastische Design der Waggons der Baureihe "1972".

"Die Johnston", seufzte G. wie ein Mann, der die Sehnsucht kennt, "sie ist wunderschön." Er schaute in die unbestimmte Ferne. "Entworfen 1916 von Edward Johnston. Im gesamten Londoner U-Bahn-Netz zu finden. Erkennbar unter anderem am kreisrunden O." Mit dem Rauch seiner Zigarette malte er ein kreisrundes O in die Luft.

"Ende der 1920er weiterentwickelt von Johnstons Schüler Eric Gill zur Gill Sans, der englischen Schrift schlechthin. Er hat das O etwas breiter gemacht." Mit dem Rauch seiner Zigarette malte G. ein etwas breiteres O in die Luft. "Die BBC benutzt die Gill Sans seit 1997 in ihrem Logo, womit sich der Kreis aufs Schönste schließt, da Gill 1932 die Skulpturen von Prospero und Ariel am Broadcasting House der BBC geschaffen hat."

"Hm", brummte ich, "vielleicht sollte ich lieber was über diesen Gill schreiben als über die Johnston." "Aber ja doch", sagte G. grinsend. "Was?", fragte ich. - "Gill hatte ein ziemlich skandalöses Sexualleben." - "Inwiefern?" - "Inzest, Missbrauch, Hund gebumst." "O", sagte ich.

© SZ vom 09.03.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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