"Holy Motors" in der SZ-Cinemathek:Surreale Liebeserklärung an das Kino

Vom Stummfilm bis zur Hardcore-Erektion: Leos Carax erforscht in seinem halluzinatorischen Bilderstrom "Holy Motors" die Metamorphosen des Kinos und des Körpers. Es geht um den Menschen unserer Zeit mit seinen endlosen Möglichkeitsformen. Wir gestalten uns selbst, bis wir auf den Tod müde sind.

Martina Knoben

Gerade einmal vier abendfüllende Filme hat Leos Carax bislang realisiert, den letzten, "Pola X", vor 13 Jahren. Und man kann nicht behaupten, dass er von der Weltöffentlichkeit brennend vermisst worden wäre; dabei galt er einmal als Wunderkind des französischen Kinos, nach "Boy Meets Girl" (1984) und "Die Nacht ist jung" (1986), mit "Die Liebenden von Pont-Neuf" gelang ihm 1991 auch international der Durchbruch.

Themendienst Kino: Holy Motors

Falls dies ein Job sein sollte, möchte man ihn nicht unbedingt haben: Monsieur Oscar (Denis Lavant) in der Rolle des Monsieur Merde, das Biest, das blumenfressend über den Friedhof läuft und gleich seiner Schönen begegnet und sie entführt.

(Foto: dapd)

Nach diesem künstlerischen und produktionstechnischen Gewaltakt (der ihn "in die Hölle" geführt hätte, wie Carax erzählte), kam acht Jahre lang nichts, dann die Melville-Verfilmung "Pola X", deren düsterer Wahn viele Kritiker so verstörte, dass sie den Film in Grund und Boden schrieben.

13 Jahre und einige gescheiterte Projekte später ist Leos Carax nun wieder da, mit einem irren Meisterwerk, das sich als ebenso naiv wie raffiniert, als beeindruckend furchtlos und mit allen Wassern des Kinos gewaschen präsentiert. In Cannes wurde Carax dafür gefeiert, erhielt aber keinen Preis. Was im Grunde die passende Würdigung ist für einen Film, in dem es um eine Amour fou geht, wie in den "Liebenden von Pont-Neuf" und frühen Werken, nur dass diese wahnhafte, hoffnungslose Liebe in "Holy Motors" dem Kino selbst gilt.

Der Film ist ein halluzinatorischer Bilderstrom, zu dem der Regisseur buchstäblich den Schlüssel bereithält. In einem Prolog ist der als scheu geltende Carax selbst zu sehen, wie er in einem Hotelzimmer mit seinem Finger, der gleichzeitig ein Schlüssel ist, eine Tapetentür öffnet, die in einen voll besetzten Kinosaal führt. Es ist eine labyrinthische, augentäuscherische Szene wie von David Lynch erfunden oder von M. C. Escher. Der Schlüsselfinger - es sieht schmerzhaft aus, wie er im Schloss gedreht wird - erinnert auch an die Prothesen und Körper-Experimente eines David Cronenberg.

Um die Verwandlungen eines Körpers, seine Ausdrucksmöglichkeiten, das Körperliche überhaupt in digitalen Zeiten geht es auch später. Eine Inhaltsangabe von "Holy Motors" fällt schwer. Aber im Zentrum steht ein Mann, Monsieur Oscar, der möglicherweise ein Schauspieler ist, jedenfalls schlüpft er immer wieder in neue Rollen.

Denis Lavant spielt ihn, der schon in Carax' früheren Filmen ein Alter Ego des Regisseurs war. (Carax wurde als Alexandre Oscar Dupont geboren; sein Künstlername ist ein Anagramm aus seinen Vornamen Alex und Oscar, und Alex hießen auch die von Lavant gespielten Figuren).

In einer weißen Stretchlimousine, einem eleganten, schwerfälligen Auto-Saurier, der von der großen blonden Céline (Edith Scob) souverän durch die Straßen von Paris manövriert wird, nimmt er im Auftrag einer ominösen "Agentur" Termine entgegen. Die Aufträge werden ihm im Fond des Wagens in dünnen Ordnern präsentiert, als wäre er ein Geheimagent oder Killer. Er nimmt sie wie Urteile an.

Und es sind ja auch Urteile, die er auf diese Weise empfängt, sein eigenes Todesurteil sogar oder das eines anderen. Wenn Monsieur Oscar die Limousine verlässt, hat er sich in eine verkrüppelte alte Bettlerin verwandelt oder in einen Killer, der einen Mann tötet, den er in ein Abbild seiner selbst verwandelt, wobei auch er getötet wird.

Trip in das Unterbewusste

Dann ist er ein sterbender alter Mann in einem Hotelzimmer; ein Vater, der sich rührend um seine pubertierende Tochter sorgt; oder Monsieur Oscar selbst - falls es den überhaupt gibt -, der seiner verlorenen Liebe in einem zum Abriss bestimmten Kaufhaus begegnet. Kylie Minogue spielt die Frau, die ebenfalls für eine "Agentur" arbeitet und gerade eine Flugbegleiterin verkörpert, die wie Jean Seberg aussieht. "Bist du es?", fragt sie, als sie Oscar auf der Straße sieht. "Ich glaube schon."

Holy Motors" ist ein Trip in das Unterbewusste des Kinos, Carax hat im Fundus gewühlt und hervorgezerrt, was ihm ins Auge sprang. Gangsterfilm, Science-Fiction, Stummfilm, Musical, Melodram - alles ist da, die großen Gesten und die zärtlichen Momente, Athletik, Action, eine Hardcore-Erektion. Viel Geträumtes - und die Gewissheit, dass das Reale und das Imaginierte im Kino nicht zu trennen sind. Wobei Carax Genres und Motive nicht einfach nachbuchstabiert; er nimmt sich was er braucht und verleibt es seinem Film ein, so hingebungsvoll und rücksichtslos, wie Liebende mit dem Geliebten manchmal umgehen.

Auch komisch, ja albern ist das manchmal und grauenvoll. In einer Episode streift Monsieur Oscar als Monster mit roten Zottelhaaren über den Friedhof Père-Lachaise wie im Stummfilm, reißt Blumen von den Gräbern und frisst sie, bis er in ein Fotoshooting gerät und das Supermodell - Eva Mendes - in die Katakomben von Paris schleppt, wo sich der Troll nackt und mit erigiertem Penis von der Schönen in den Schlaf wiegen lässt.

Was Monsieur Oscar da eigentlich macht, erfährt man nicht. Vielleicht ist er ein Fantasy-Rollenspieler, vielleicht ist das Ganze der letzte Gedanke eines Sterbenden. Der Tod ist nämlich ein ständiger Begleiter Monsieur Oscars, nicht nur, weil immer wieder viel gestorben wird in den Episoden.

Eine große Melancholie ist zu spüren, Carax' Reaktion auf die Metamorphosen des Kinos, darauf, dass die Apparate des 20. Jahrhunderts, zu denen auch die analoge Filmtechnik zählt, verschwinden werden durch die Digitalisierung. "Holy Motors", erfahren wir am Schluss, heißt die Agentur, in deren Dienst Monsieur Oscar steht; mit den "holy motors" ist aber womöglich auch der Film gemeint, diese Paarung von Körpern und Maschinen, dieses profane Geschäft, dessen Ergebnisse Carax so verehrt.

Falls Monsieur Oscar Schauspieler sein sollte, sind die Filmteams und die Kameras jedenfalls nie zu sehen. Einmal taucht ein Vertreter der Agentur (Michel Piccoli) in der Limousine auf; Monsieur Oscar beklagt ihm gegenüber, dass die Kameras immer kleiner und schließlich unsichtbar geworden seien, am Ende zum Überwachungsapparat in den Zentren der Großstädte, die von winzigen Kameraaugen flächendeckend überschaut werden.

"Visit my website" auf Gräbern

Aufgezeichnet wird ein gigantisches Schauspiel für ein geisterhaftes Publikum - sind das auch die Zuschauer des Monsieur Oscar? Dessen Auftraggeber kritisiert jedenfalls, dass, je mehr Kameras um uns herum aufgestellt würden, desto weniger Interesse ihre Bilder fänden. Und vielleicht ist "Holy Motors" Leos Carax' Versuch, genau dem entgegenzuarbeiten. Da ergibt der geniale Irrsinn dieses Films plötzlich einen Sinn.

Das Unbehagen gegenüber der Digitaltechnik bringt Carax jedenfalls immer wieder zum Ausdruck. "Visit my website", steht auf den Gräbern, an denen der Troll vom Friedhof entlangläuft. Dass er die digitalen Kameras verachte, weil sie sich aufdrängten oder uns aufgedrängt würden, hat Carax im Interview erklärt.

Er hat "Holy Motors" mit einer kleinen Digitalkamera drehen müssen, das ist eine bittere Ironie des Films. Man meint, in seiner Rastlosigkeit und schweifenden Aufmerksamkeit die Auswirkungen der Technik zu spüren. Aber Carax hat schon früher so gearbeitet; seine Filme sind unbehauste, impulsive Herumtreiber wie seine Figuren.

Dass man an diesem verrückten Neuzugang von Film nicht die Lust verliert, liegt auch an Denis Lavant, dessen durchtrainierter, sehniger, keineswegs junger Körper und markantes Gesicht mit den verzweifelten Augen wie der Inbegriff des Analogen aussehen.

Wenn Monsieur Oscar sich für eine Motion-Capture-Episode die Haube mit den Leuchtpunkten aufsetzt, erinnert diese an eine Dornenkrone. In eine digitale Welt würde am besten ein quecksilbriger Mensch passen, ein Gestaltwandler, der unmerklich ein anderer wird, je nach Auftrag. Genau das ist Monsieur Oscar nicht. Seine Rollen erschöpfen ihn, am Ende eines schier endlosen Arbeitstages ist er müde, womöglich auf den Tod.

Monsieur Oscar sind wir alle. Er ist der Mensch unserer Zeit mit seinen endlosen Möglichkeitsformen, der sich selbst gestaltet, um niemals mehr in einem klar abgegrenzten Privaten anzukommen. Dass es sich hier um einen Traum innerhalb eines Traums handelt, legt ja schon die erste Einstellung nahe. Da blickten wir auf: uns - auf Menschen, die gebannt auf eine Leinwand blicken. Wir sind ja schließlich im Kino.

Holy Motors, F 2012 - Regie, Buch: Leos Carax. Kamera: Caroline Champetier, Yves Cape. Schnitt: Nelly Quettier. Mit: Denis Lavant, Edith Scob, Eva Mendes, Kylie Minogue, Elise Lhomeau, Michel Piccoli, Jeanne Disson. Arsenal, 115 Minuten.

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