Europa:Ein Plan, der die EU-Bürokratie sprengen soll

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Wo das Geld regiert: die EZB-Zentrale während einer Lichtinstallation. (Foto: Kai Pfaffenbach/Reuters)

Ökonomen um Thomas Piketty haben einen Reformvorschlag für die Eurozone vorgelegt. Ihr erklärtes Ziel ist Demokratisierung. Doch sie wollen etwas ganz anderes.

Von Martin Winter

Wenn den Europäern gegenwärtig etwas gemeinsam ist, dann ist es das Nachdenken darüber, was sie dagegen tun können, derzeit gemeinsam politisch nichts auf die Reihe zu bekommen. Die Lage ist heikel. Das Fehlen einer gemeinsamen Vision und die schweren Konstruktionsmängel des Euro bedrohen die Vereinigung Europas im Kern. Beides hängt zusammen. Scheitert der Euro, dann scheitert das zentrale Vereinigungsprojekt. Damit würde sich die Frage nach den europäischen Visionen von selbst erledigen. Eine neue Perspektive für Europa kann es also nur dann geben, wenn die Wirtschafts- und Währungsunion auf soliden Beinen steht. In der Krise ist es der Euro-Zone, der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem Internationalen Währungsfonds in mehreren Notoperationen zwar gelungen, den Euro vorläufig zu stabilisieren. Doch grundlegende Mängel wie das gewaltige wirtschaftliche Gefälle in der Eurozone, das Fehlen gemeinsamer Finanzinstrumente oder nationaler Eigensinn in der Wirtschafts- und Steuerpolitik halten den Euro schwach und anfällig.

Entsprechend hektisch wird nach dauerhaften Lösungen gesucht. Der Markt der europäischen Ideen ist überschwemmt mit Angeboten, von kleinen Korrekturen an der Mechanik der Währung über eine Zentralisierung wirtschafts- und finanzpolitischer Entscheidungen bis hin zur europäischen Staatsgründung. Nun ist ein weiterer Vorschlag auf den Markt gekommen.

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In "Für ein anderes Europa" plädiert ein französisches Quartett für eine radikale Verschiebung der Macht innerhalb der Euro-Zone. Dass diese Idee als Buch herauskommt, dürfte vor allem daran liegen, dass der Bestsellerautor Thomas Piketty ("Das Kapital") einer der Verfasser ist. Dieses Konzept ist aber auch aus zwei sachlichen Gründen interessant: Zum einen erweitert es das Feld der Reformideen durch seinen radikalen Ansatz. Zum anderen eröffnet es einen Einblick in eine bestimmte französische Denkschule, die sich sehr stark an Deutschland, dessen Position in Europa und an dessen Politik abarbeitet.

Das Ziel: nicht Parlamentarismus, sondern die finanzpolitische Entmachtung der Nationalstaaten

In dem schmalen Band findet sich ein ausformulierter Vertragstext aus 22 Artikeln samt Erläuterungen und einer vorangestellten, ausführlichen rechtlichen und politischen Begründung. Außer Piketty zeichnen die Pariser Professorin für öffentliches Recht, Stéphanie Hennette, sowie die beiden ebenfalls in Paris lehrenden Guillaume Sacriste (Politische Wissenschaften) und Antoine Vauchez (Soziologie) für das Konzept verantwortlich. Sie schlagen einen Demokratisierungsvertrag (DemV) vor, den die Euro-Länder untereinander schließen sollen, zur Zeit 19 der 28 EU-Staaten. Nun ist die Idee, die Wirtschafts-, Finanz- und Stabilitätspolitik der Euro-Länder einer eigenen parlamentarischen Kontrolle zu unterwerfen ebenso wenig neu wie der Vorschlag, dafür ein Mischgremium aus den nationalen Parlamenten und dem Europaparlament zu schaffen. So sehr Krisenmanagement immer die Stunde der Exekutive ist, so wenig verträgt eine demokratische Gesellschaft diesen Zustand schließlich auf Dauer. Was den Vorschlag der vier aus Paris aber von allen anderen unterscheidet: Ihr Parlament soll die Mechanismen der Euro-Zone nicht demokratisieren, sondern es soll sie sprengen.

Es gehe nicht darum, "die Verfahren der repräsentativen Demokratie nachzuahmen", indem etwa "künstlich ein Gegenüber zwischen einer 'Regierung' und einem 'Parlament'" geschaffen werde, so die Autoren. Dieses Parlament solle vielmehr seine "Macht als Kontrapunkt zu all jenen Konvergenz- und Konditionalitätspolitiken" setzen, "die um diesen exekutiven europäischen Pol entstanden sind". Dafür soll es mit der Macht der Letztentscheidung in allen zentralen Fragen der Wirtschafts-, Haushalts- und Stabilitätspolitik der Euro-Zone ausgestattet werden, inklusive eines starken Einflusses auf die Europäische Zentralbank.

Es geht kurz gesagt also nicht um eine Demokratisierung der europäischen Verfahren, sondern um die wirtschafts- und finanzpolitische Entmachtung der Nationalstaaten und einen wirtschafts- und finanzpolitischen Kurswechsel. Um diese ihre Position heller leuchten zu lassen, malen Piketty und seine Mitstreiter den "exekutiven europäischen Pol" als ein Reich der Finsternis aus. Seriös ist das nicht. An der streckenweise nur rudimentären parlamentarischen Begleitung der Stabilitäts- und Krisenpolitik lässt sich gewiss vieles aussetzen. Aber dass sich unter Ausnutzung der Krise ein unkontrollierbarer "Machtblock" aus "nationalen und europäischen Wirtschafts- und Finanzbürokratien" sowie aus den "Leitungsebenen des deutschen und des französischen Finanzministeriums" und aus dem Direktorium der EZB und "hoher Beamter der Europäischen Kommission" herausgebildet habe, der sich "unablässig neue Kompetenzen" aneigne, lässt sich aus der europäischen Wirklichkeit nicht ableiten.

Der Plan richtet sich vorderhand gegen die deutsche Konsolidierungspolitik

Doch genau dieses Bild einer geschlossenen und im Dunkeln agierenden Exekutivwelt, eines tiefen Staates mitten in Europa, braucht das französische Quartett, um zum Kern seines eigentlichen Anliegens zu kommen. Diese "undurchsichtige Machtstruktur" habe in den vergangenen Jahren in der Euro-Zone zu einer "Art Taubheit gegenüber warnenden und anderen abweichenden Stimmen" und damit zur "Konsolidierung einer Sparpolitik" geführt. Dem will Piketty, ein scharfer Gegner der Stabilitäts- und Konsolidierungspolitik, wie sie Deutschland vertritt, mit dem Euro-Parlament den Garaus machen. Die Gewissheit, dass das so funktionieren wird, schöpft er aus zwei Quellen. Zum einen werde das Parlament "deutlich nach links tendieren", was die Autoren sogar mit einer Tabelle belegen zu können glauben. Zum anderen sind sie sich - zu Recht - der Mithilfe aus den konservativen Lagern in Frankreich, Italien und Spanien sicher, die schon länger mehr oder minder offen eine Abkehr von der deutschen Linie betreiben.

Für die Debatte über Europa verheißt das nichts Gutes. Es sei daran erinnert, dass die Stabilitätspolitik und die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank die beiden Bedingungen der Deutschen waren, dem Euro zuzustimmen. Diese nun mithilfe eines neu geschaffenen Parlaments aushebeln zu wollen, ist ein sehr gefährliches Spiel. Es mag ja Gründe geben, die von Deutschland propagierten und in den EU-Verträgen von allen unterschriebenen Positionen zu räumen oder zu modifizieren. Aber dann sollte Piketty sich offen und argumentativ in diesen Streit stürzen, anstatt mit einem neuen Parlament die Machtverhältnisse zugunsten seiner Positionen ändern zu wollen. Sein Demokratisierungsvertrag ist ein schöner Trick - aber eben auch nur das: ein Trick.

© SZ vom 04.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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