Bob Dylans neues Album "Shadows in the Night":Schmalzgebackenes aus der Kinderzeit

Bob Dylan im Jahr 2012 im Weißen Haus.

Sein eigener Vorfahr: Bob Dylan, hier vor ein paar Jahren beim Empfang im Weißen Haus.

(Foto: Jason Reed/Reuters)

Bob Dylan ist mit seinem 36. Album in der Nostalgie-Sackgasse angekommen. Dort, wo ein Woody Allen seit Jahrzehnten feststeckt. Doch für den Sänger gibt es Hoffnung.

Von Karl Bruckmaier

Wenn es stimmt, dass sich die Zellen des menschlichen Körpers alle sieben Jahre komplett erneuern, dann ist Bob Dylan seit seinem kreativen Comeback zu Beginn der Neunzigerjahre bereits dreimal ein anderer geworden. Seine spirituelle Wiedergeburt durften wir zwei Runderneuerungen davor bezeugen; und dass man ihn "Stimme einer Generation" genannt hat, ist jetzt schon sieben solcher Zyklen her.

Um aber sein aktuelles Album "Shadows in the Night" (Columbia) besser verstehen zu können, müssen wir in genau jene Zeit zurückgehen, müssen wir sogar nochmals zwei solcher Umdrehungen der Zelluhr nachvollziehen, bis wir einem kleinen Jungen begegnen, der nachts in seinem Bett irgendwo im Norden Minnesotas liegt, unweit der kanadischen Grenze, und Radio hört, während die anderen im Haus schon lange schlafen:

"Spätnachts kamen dann auch Sender rein, die so Vorläufermusik von Rock'n'roll spielten, Jimmy Reed vielleicht. In Chicago schien es einen Sender zu geben, der war auf Hillbilly-Musik spezialisiert, und aus Nashville kam vielleicht ein Fetzen aus der Grand Ole Opry durch den Äther. Ich habe jedenfalls Hank Williams noch zu seinen Lebzeiten gehört. Und dann die Staple Singers, "Uncloudy Day", Mann . . ."

Das erzählt Bob Dylan gerade den Lesern der Mitgliederzeitschrift des AARP, einer Pensionistenvereinigung in den USA, von denen demnächst 50 000 zufällig ausgewählte Mitglieder ein Gratis-Exemplar von "Shadows in the Night" in der Post finden werden, Dylans 36. Studioalbum.

Wenn Dylan seinerzeit wie Prousts Protagonist in der "Suche nach der verlorenen Zeit" eine mitternächtliche Parallelwelt in seinem Kinderzimmer aufrichtet - hier fremdartige Lieder statt Bilder der Laterna Magica -, dann ist dies keine Welt aus Angst, sondern eine Welt voller Zukunft (was nicht heißt, dass man vor der keine Angst haben müsste!).

Etwas Neues, das noch keinen Namen hat

Klein-Robert findet schnell heraus, dass etwa Mavis Staples fast gleichaltrig ist, dass, soweit sein Radio reicht, etwas gärt und sich ändert und anbricht, etwas Neues, das noch keinen Namen hat: Denn der Name, den dieses Neue einst tragen wird - Pop - der ist noch an eine ganz anders geartete Musik vergeben.

Die spuckt eine perfekt mit Schlangenöl abgeschmierte Emotionsindustrie aus; Wohlfühlmusik, die für Shows, Musicals, Nachtclubs, die für das urbane Nachtleben bestimmt ist, das von dem einsamen Kinderbett am Rande des Lake Superior etwa so weit entfernt ist wie die Ukraine, wo Dylans Großeltern herstammen.

Die Songs heißen "Some Enchanted Evening" oder "Lucky Old Sun" und werden von Profis namens Rogers, Hammerstein oder Irving Berlin für die Perry Comos oder Doris Days dieser Welt voller Cocktailgläser und Abendkleider maßgeschneidert.

Der Klang des urbanen Nachtlebens, irgendwo in Minnesota

Es ist die Musik, welche Dylans Eltern, die Tanten und Onkels hören. Was der Dichter Chuck Berry bald aus dem Radio herausbellen wird, was ein Elvis balzt und ein Little Richard abbrennt, das ist grobschlächtiger, dümmer, unsicherer. Das ist großkariert und roh.

Das ist keinesfalls eine Musik auf dem Höhepunkt ihrer ästhetischen Möglichkeiten wie diese Songs, die ein Miles Davis, ein Chet Baker, eine Billie Holiday trotz ihrer Banalität zu ungeahnter Komplexität und Tiefe aufspannen können. Das ist nichts, was dereinst im "American Songbook" kanonisiert wird. Als Bob Dylan selbst zu schreiben und zu singen anfängt, scheint auf diesen Platten nichts ferner zu sein als die Musik, die ein Frank Sinatra einspielt.

Kürzlich ist eine neun LPs umfassende Box mit fünfzig Jahre altem Dylan-Material in einer Auflage von tausend Stück erschienen, um auf der so veröffentlichten Musik weiterhin die Urheberrechte-Hand draufzuhaben - kaum Bootleg-taugliches Gerausche, ein paar Outtakes aus dem Studio, ein guter Live-Mitschnitt von einer England-Tournee, Sammlermaterial also - doch wenn man dort hört, wie Dylan im Zorn seiner Jugend vom Mord an Hattie Carroll singt, wie er in "Times They Are A-Changin'" das einst als kleiner Junge gefühlte Neue zu benennen versucht, dann steigen einem fast selbst die Tränen des Zorns in die Augen ob seiner Entscheidung, seine Kreativität ans Schmalzgebackene seiner Kinderzeit zu verschwenden - Musik, die Hattie Carrolls Mörder viel eher gehört hat als sein Opfer.

Doch sieben mal sieben Jahre sind seither vergangen; sieben neue Dylans haben wir erduldet und gefeiert. Und der neue Dylan ist eben ein sehr alter Dylan, sein eigener Vorfahr gewissermaßen - denn hat er nicht selbst als Dienstleister für einen Musikverlag angefangen, hat er nicht schon in den Sechzigern Schlager wie "Mr. Bojangles" aufgenommen? Hat er nicht in den Achtzigern monumentale Albernheiten wie "Man Gave Name to All the Animals" oder "Wiggle Wiggle" gekräht, hat er nicht "Tomorrow Night" gegurrt vor fünfundzwanzig Jahren, und findet sich nicht dutzendweise Balzschmalz auch auf den letzten Alben, nur eben selbst gebacken?

Dylan glaubt offenbar, wenn er die Sinatra-Songs auf "Shadows . . ." mit seiner kaputten Altmännerstimme intoniert und die Band ohne Schlagzeug und Klavier eine Art Western-Version dieser urbanen Befindlichkeitsmusik anstimmt, dass er sich diese Songs zu eigen machen kann.

Das "American Songbook" wird auch Dylans Version unbeschädigt aushalten

Aber es ist wohl eher so, dass diese Songs auch Dylans Version unbeschädigt als das überleben werden, was sie sind: perfekte "instruments de la mémoire", Erinnerungsmaschinen also. Wer sich für Sinatra, für Dylan, für das American Songbook interessiert, wird jeweils woanders erheblich mehr Erkenntnis- oder Lustgewinn verbuchen können. Schließlich sind diese Lieder und ihre kongenialen Interpreten "Forever Young", um im Dylan-Sprech zu bleiben.

"Shadows in the Night" wird bald die Rolle eines etwas befremdlichen, aber doch grundsympathischen Onkels spielen, dem man nichts zu sagen hat, dem man aber trotzdem manchmal gern zuhört. So ist Dylan in der Nostalgie-Sackgasse angekommen, in der Woody Allen seit Jahrzehnten feststeckt. Nur darf man bei Dylan hoffen - genau in dem Moment, wenn im letzten Song, beim letzten Wort seine Stimme wegbricht - dass er da auch wieder herausfindet. Wenn die neue Lieferung Zellen angekommen ist.

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