Bildband "Boy Stories":Aus dem Kopf geschossen

Im Bildband "Boy Stories" stellt der schwedische Fotograf Johan Willner die Erinnerungen seiner Kindheit nach. Die Bilder erzählen eine Geschichte rund ums Aufwachsen ohne Vater. Und zeigen, dass auf Erinnerungen nicht so viel Verlass ist, wie man glaubt.

Von Johannes Spengler

Bildband "Boy Stories"

Die Ordnung, 2006

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(Foto: Johan Willner)

Fotografisches Gedächtnis: Im Bildband "Boy Stories" stellt der schwedische Fotograf Johan Willner die Erinnerungen seiner Kindheit nach. Die Bilder erzählen eine Geschichte rund ums Aufwachsen ohne Vater. Und zeigen, dass auf Erinnerungen nicht so viel Verlass ist, wie man glaubt. Eine Schulhofprügelei, Blut an der Schläfe, lachende Kinder im Hintergrund und ein Blick, der irgendwo zwischen Angst und Stolz liegt - das Bild geht dem Fotografen Johan Willner nicht mehr aus dem Kopf. Jahrelang trägt er die Szene mit sich herum, er wird älter, die Erinnerung verblasst, manche Details gehen verloren, andere werden verzerrt. In seinem Bildband "Boy Stories" erforscht der schwedische Fotograf die Macht der Erinnerung und den Einfluss, den die Zeit auf unser Gedächtnis hat. Mit dem Bild "Die Ordnung" fing alles an: "Es ist eines der stärksten Bilder, dass ich jemals gesehen habe", sagt der 41-Jährige. "Es ist die ganze Zeit mit mir zusammen gereist und ich wollte herausfinden, was passiert, wenn ich versuche, es nachzustellen. Ist es dann immer noch dasselbe Bild oder wird es sich verändern?" Für dieses Experiment benutzt Willner, der seine Karriere als Dokumentationsfotograf begonnen hat, eine nüchterne Bildsprache. Er will festhalten und den Moment einfrieren. Dafür stellt er die Bilder aus seinem Gedächtnis in einem aufwändigen Prozess nach - manchmal braucht er Wochen, um eine Szene zu komponieren. Alle Bilder stammen aus dem Bildband "Boy Stories" von Johan Willner, erschienen im Hatje Cantz Verlag

Bildband "Boy Stories"

Skinheads, 2009

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(Foto: Johan Willner)

Manche der Bilder behandeln einen speziellen Moment - andere werden aus Szenen geboren, die sich jeden Tag ereignen. So wie das Bild von den drei Skinheads, die auf der Straße herumlungern. Willner berichtet, er habe solche Gruppen jeden Tag gesehen, wenn er von der Schule nach Hause gegangen sei. Durch die tägliche Wiederholung brannte sich das Motiv in seinen Kopf und ist auch noch Jahre später lebendig. Alltäglich ist das Bild auch, weil es das Spannungsfeld zwischen der Stärke einer Gruppe und der Unterlegenheit des Einzelnen untersucht. Der Betrachter steht den drei Skinheads ganz allein gegenüber. Plötzlich ist er der Schwache. "Viele Jungen identifizieren sich mit einer Gruppe. Die Gruppenzugehörigkeit gibt ihnen Stärke und sie fühlen sich erwachsen, sie fühlen sich wie Männer."

Bildband "Boy Stories"

Battle of Innocence, 2007

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(Foto: Johan Willner)

Andere erleben Stärke als einen Initiationsritus. Was passiert, wenn ein Kinderspiel ernst wird, erfahren diese vier Kinder. Sie wollten nicht mehr, als mit ihren Bögen im Wald spielen - den Erwachsenen nacheifern, den Männern, die doch schließlich jagen gehen. "Es ist ein Spiel, in dem es darum geht, ein Mann zu werden", sagt Willner, "und plötzlich ist das Spiel wahr geworden." Zufällig trifft einer der Pfeile sein Ziel. Ratlos stehen die Kinder um den toten Schwan herum. Sie sind ängstlich, sie befürchten die Konsequenzen und zugleich spüren sie, dass die Erfahrung sie reifer gemacht hat. "Es ist eine erschreckende Erfahrung, die der Junge im Vordergrund macht. Aber jetzt ist er beinahe ein Held." Willners Bilder sind niemals eindeutig, sie zeigen die Ängste der Kinder, ebenso wie ihren Stolz. Sie wollen die Erwachsenen nachahmen und merken, dass sie eine ambivalente Welt erwartet, in der auch Helden das Falsche tun können. Diesen Zwiespalt greift Willner heraus und rückt ihn in den Mittelpunkt.

Bildband "Boy Stories"

Requiem at Kyrkbol Mere, 2009

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(Foto: Johan Willner)

Wie unsicher das Erinnerungsvermögen ist, zeigt das Foto von einem Elch, der vor einem Jäger flüchtet. "Es ist eine Geschichte, die mir jahrelang erzählt wurde. Ich war mir sicher, dass ich dabei war", erzählt er. "Bis ich irgendwann meine Mutter gefragt habe. Da fand ich heraus, dass die Geschichte mit dem Elch tatsächlich meinem Urgroßvater passiert ist." Der Elch ist gefangen - an jedem Ufer wartet ein Jäger auf ihn, er kann nirgendwo hin. Willner geht es mit dieser Erinnerung nicht anders. Sie ist in seinem Kopf, sie fühlt sich real an und sie ist ein untrennbarer Teil von ihm.

Bildband "Boy Stories"

The Visiting Room, 2009

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(Foto: Johan Willner)

Einer der Gründe, warum Heranwachsende eine derart wichtige Rolle in Willners Arbeit spielen, ist die Beziehung zu seinem Vater. Als Willner gerade mal elf Jahre alt war, wurde sein Vater mit schweren Depressionen in die Psychiatrie eingewiesen. "Ich erinnere mich, dass meine Mutter ihn umarmt hat, und er umarmte sie nicht zurück. Er reagierte einfach nicht." Die Depression und die Abwesenheit des Vaters löste in Willner den Reflex aus, die Leere auszufüllen. Also musste er selbst zum Mann werden. "Ich musste den Platz mit ihm tauschen und versuchte herauszufinden, wie ich aufwachsen soll - das verfolgt mich bis heute."

Bildband "Boy Stories"

Forward, 2009

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(Foto: Johan Willner)

Auch dieses Bild dreht sich um die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Während der Vater rechts im Hintergrund seinem Sohn nachschaut, geht dieser entschlossen von ihm weg. Es gibt kein Zurück mehr für ihn, das Haus ist abgebrannt. Willner erklärt den Moment: "Der Vater meines besten Freundes war Alkoholiker. Das Feuer war ein Unfall, er war ein kranker Mann. Aber in dem Moment realisierte mein Freund, dass er seinen Vater nicht ändern kann. Er musste weggehen." Auch dieser Junge befindet sich in einer Situation, in der er Verantwortung für sich selbst übernimmt und sich dadurch von seinen Eltern emanzipiert. Dass dieser tragische Moment auch etwas Gutes in sich birgt, weil der Sohn endlich Abschied von seinem kranken Vater nimmt, erschließt sich erst durch die Nachschau. Willner benutzt eine Bildsprache, die Dokumentationsfotografie mit einem starken Symbolismus vermischt, um sein Gedächtnis zu kartografieren. Er vergleicht diese Mischung mit dem Betrachten eines Filmes: "Dir ist bewusst, dass ein Film nicht real ist, aber er fühlt sich real an und du kannst einen Bezug dazu herstellen, was auf der Leinwand passiert."

Bildband "Boy Stories"

Standstill, 2012

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(Foto: Johan Willner)

Das Foto "Standstill" beschreibt einen Moment, der surreal erscheint: Durch Willners Augen schaut der Betrachter aus dem Fenster einer U-Bahn - direkt in einen anderen Zug, der daneben hält. Willner erklärt die Szene so: "Ich bin nach der Schule irgendwo hingefahren. Plötzlich hält ein anderer Zug neben mir." Und für einen Moment sieht er genau neben sich, getrennt lediglich durch zwei Glasscheiben, seine eigene Mutter. "Es war das erste Mal, dass ich meine Mutter als Frau wahrnahm, weil ich sie mit dem Blick eines Fremden betrachtete." Auch in diesem Motiv befindet sich ein gewaltiger Zwiespalt, den Willner offen darstellt. Die vertraute Mutter wird für einen kurzen Moment zur Fremden, bevor sich die beiden wiedererkennen. Aus heutiger Sicht verlieren Willners Fotos nichts von ihrem seltsamen Reiz. Sie mögen die Abbilder jahrzehntealte Erinnerungen sein, verzerrt oder sogar falsch. Aber verblasst sind sie nicht.

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