Big Data im Fußball:Mehr Laptop-Trainer, bitte!

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Die Zukunft im Fußball wird jenen gehören, die aus Daten die besten Schlüsse ziehen: Lukasz Piszczek mit Brustgurt zur Erfassung der Körperwerte. (Foto: imago/MIS)

Das Fußball-Buch "Matchplan" beschreibt sehr lesenswert, wie Technik den Sport verändert. Nebenbei ist es eines der besten Bücher über den digitalen Wandel überhaupt.

Von Dirk von Gehlen

Das Leben ist Fußball. Will sagen: Es gibt wenig, das so sehr hilft, die Welt (und die Menschen) zu verstehen oder zumindest einzuordnen, wie Fußball-Metaphern. Der Sport ist schließlich die sichere Konstante in einer unübersichtlichen Welt: Ein Spiel dauert neunzig Minuten, am Wochenende fiebert man mit seiner Mannschaft und am Ende ist Bayern trotzdem Meister. Das war schon immer so und das soll auch fast immer so bleiben. Und trotzdem verändert sich natürlich auch der Fußball. Was großartig ist, er kann damit nämlich nun sogar den Wandel beschreiben, den die Digitalisierung der Gesellschaft bringt.

Denn auch auf dem Rasen spielen seit ein paar Jahren Daten eine immer größere Rolle. Es ist bereits acht Jahre her, dass der Sportjournalist Christoph Biermann, Mitglied der Chefredaktion des Fußballmagazins 11 Freunde, in seinem Buch "Die Fußball-Matrix" feststellte: "Fußball ist zu einem Spiel der Zahlen geworden." Die Zahlen werden auf sehr unterschiedliche Weise erhoben, aber immer mit dem Ziel, mehr über das Spiel zu erfahren als das bloße Auge sieht.

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Gerade ist Biermanns neues Buch namens "Matchplan" erschienen: ein lesenswerter Überblick über die Veränderung des Sports, aber vor allem eine perfekte Metapher fürs digitale Leben. "Die Zukunft im Fußball wird nicht einfach denen gehören, die über die Daten verfügen, sondern jenen, die aus Informationen die besten Schlüsse ziehen", schreibt Biermann und ergänzt: "Darin unterscheidet sich der Fußball nicht von allen anderen Bereichen unseres Lebens."

Von wo auf dem Fußballfeld man mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Tor trifft

Die Begriffe Cambridge Analytica oder Mark Zuckerberg sind auf den 280 Seiten ebenso wenig zu lesen wie Smartphone-Sucht oder Überwachungsangst, und doch kann man sie in diesem Fußballbuch entdecken - wenn man genau hinschaut. Denn das, was Biermann über den Fußball schreibt, ist eine perfekte Analogie auf all das, was auch außerhalb des Spielfelds passiert. Die Entwicklungen verlieren durch die Analogien zum Sport aber die gesellschaftliche Schwere und die kulturhistorische Bedeutsamkeit, mit der sonst über die Digitalisierung diskutiert wird. Besonders deutlich wird dies, wenn Biermann sich dem Thema "Algorithmen" nähert.

"Algorithmus ist eines dieser geheimnisvollen Wörter des Digitalzeitalters, die irgendwas schwer Fassbares beschwören. Was mit Daten und Computern, beeindruckend und beängstigend zugleich", schreibt er. "Dabei sind Algorithmen nichts anderes als Handlungsanweisungen, was getan werden soll, um ein Problem zu lösen. Ein Algorithmus wird von einem Menschen entwickelt, der etwa wissen will, von wo auf dem Fußballfeld man in welcher Spielsituation mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Tor trifft. Wie gut dieser Algorithmus das kann, hängt davon ab, wie gut derjenige, der ihn geschrieben hat, das Problem vorher durchdrungen hat. Oder wie gut und umfangreich seine Daten sind."

Vielleicht ist es tatsächlich leichter, diese sachlich richtige Definition zu lesen, wenn es um so genannte Expected Goals geht und die Wahrscheinlichkeit, mit der Treffer erzielt werden. Und möglicherweise nimmt es sogar jene Ängste vor der Digitalisierung, die unbegründet sind (ohne zu leugnen, dass es auch begründete gibt). Man kann sich dann etwa mit der Frage befassen, warum Borussia Dortmund in der letzten Saison von Trainer Jürgen Klopp so oft aus (statistisch) aussichtsreichen Positionen geschossen hat, aber kaum getroffen. Die Daten stehen plötzlich nicht mehr im Mittelpunkt, sie dienen einem Zweck, der sich jedem Fan sofort erschließt. Niemand nimmt Schaden, wenn diese Daten genutzt werden, im Gegenteil: Die Nutzung macht die Fans vielleicht sogar schlauer.

Matchplan (Foto: Kiepenheuer & Witsch)

Doch "Matchplan" beschränkt sich nicht darauf, die technischen Veränderungen zu beschreiben und ihre Protagonisten zu treffen. "Matchplan" wird deshalb zu einem richtig guten Buch über die gesellschaftliche Digitalisierung, weil Christoph Biermann sich auch der Kultur und den Gewohnheiten widmet, die im Fußball nicht selten den Charakter von Aberglauben annehmen.

Autorität erhalten jene, die früher selber mal Tore geschossen haben

Im Sport greift schließlich regelmäßig ein Mechanismus, der auch in anderen Bereichen der Gesellschaft bekannt, und in Bezug auf den digitalen Wandel besonders problematisch ist: "Social Proof" nennt man diesen "weitverbreiteten Wahrnehmungsfehler", der dazu führt, "dass wir Dinge so machen, wie wir sie immer schon gemacht haben und weil andere sie auch so machen". Eine Form von Selbstbestätigung, die nicht nur im Fußball zu einer sehr konservativen Grundhaltung führt, die vom Bewahren und nicht vom Gestalten geprägt ist: Autorität erhalten in diesem Sport zum Beispiel vor allem jene, die früher selber mal Tore geschossen haben. Wer sich dem widersetzt, wer gar als Quereinsteiger ohne nennenswerte eigene Karriere kommt, wird als "Laptop-Trainer" verunglimpft, der den Geist des Sports angeblich nicht versteht.

Biermann analysiert diese blinden Flecken - so genannte Biases - aus der Haltung eines Fußball-, nicht eines Technik-Fans. Er ist kein Digitalenthusiast oder naiver Technikoptimist. Aber gerade weil er den Fußball so mag, dass er in dessen Beschreibung auch vor großen Emotionen nicht zurückschreckt, versteht er die Faszination, die von Trainern wie Thomas Tuchel ausgeht, die auf eine Vielzahl von Daten zurückgreifen, um das Spiel besser zu machen. Von ihm stammt auch der titelgebende Begriff "Matchplan", den es so im Englischen gar nicht gibt. Biermann nutzt ihn, um zu zeigen, dass die entscheidenden Impulse zur Digitalisierung des Fußballs von Außenstehenden kamen, von denen, die bereit waren, Regeln zu brechen und anders zu denken.

Was das für die Gesellschaft und ihren Umgang mit dem digitalen Wandel bedeuten kann? Vielleicht kann man auch das am besten mit einer Fußball-Metapher beantworten: Es ist wie ein öffnender Pass in die Schnittstelle der Abwehr, der den Angreifer genau im richtigen Moment erreicht. Plötzlich steht er frei vor dem Tor und hat die Chance zu vollenden. Wie das geht, steht nicht in "Matchplan". Das muss man selber ergründen. Das Buch hilft aber dabei, sich freizuspielen.

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