Fußball:Drei neue Parameter für Fußball-Scouts

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Blöd gelaufen? Die Passquote der Brasilianer stimmte, dennoch ging das Halbfinale gegen Deutschland während der WM 2014 gleich mit 1:7 verloren.

(Foto: Francois Xavier Marit/AFP)
  • Längst ist auch im Fußball Big Data angekommen, Forscher erheben dabei weit komplexere Daten als Ballbesitz und Laufdistanz.
  • Eine Rolle spielen etwa Indikatoren wie Pressingindex, Raumkontrolle und Passeffektivität.
  • "Anhand dieser Parameter kann man die oberen und unteren Tabellendrittel vorhersagen", sagt Daniel Memmert von der Sporthochschule Köln.

Von Joachim Laukenmann

Ballbesitzstatistik, Passquoten, Laufdistanz oder Heatmaps mit den Aufenthaltsorten der Spieler - heute vergeht kein professionelles Fußballspiel, bei dem das Geschehen nicht mit haufenweise Daten aufbereitet wird. Auch beim Spiel der deutschen Auswahl gegen England heute Abend werden diverse Statistiken wohl als Gütesiegel der jeweiligen Mannschaft herangezogen. Dabei ist aus Studien längst bekannt, dass diese einfachen Indikatoren kein Erfolgskriterium darstellen.

Exemplarisch dafür steht das Champions-League-Spiel Celtic Glasgow gegen den FC Barcelona vom 7. November 2012. Barcelona dominierte die Partie scheinbar nach Belieben: 84 Prozent Ballbesitz, 25:5 Torschüsse, 955 Pässe und eine überragende Passquote von 91 Prozent. Celtic brachte es nur auf 166 Pässe und lieferte 38 Prozent Fehlpässe ab. Doch die Schotten gewannen 2:1 und der Anschlusstreffer von Barcelona fiel erst in der Nachspielzeit. Ähnlich war es beim WM-Halbfinale in Brasilien 2014: Die Gastgeber hatten die bessere Passquote, mehr Torschüsse und waren häufiger im Angriffsdrittel. Aber Deutschland gewann mit 7:1.

Natürlich ist es von Vorteil, wenn ein Spieler seine Pässe an den Mitspieler bringt. Aber es macht einen Unterschied, ob es sich dabei nur um kurzes Sicherheitsgeschiebe im Mittelfeld handelt, oder um riskante aber womöglich spielentscheidende Steilpässe in den Lauf der Stürmer. "Ähnlich verhält es sich mit der Ballbesitzquote", sagt Daniel Memmert vom Institut für Trainingswissenschaft und Sportinformatik an der Deutschen Sporthochschule Köln. "Diese sagt durchaus einiges über die Dominanz einer Mannschaft aus, aber selten etwas über ihre tatsächlichen Siegchancen."

In den letzten Jahren hat Memmert gemeinsam mit dem Sportinformatiker Jürgen Perl von der Universität Mainz ein Analysetool entwickelt, das über die heute übliche und noch etwas naive Datenanalyse hinausgeht. Mit Soccer, wie das Tool heißt, lassen sich aus den laufend gesammelten Positionsdaten der Spieler taktisch relevante Aspekte ermitteln, sogenannte Key Performance Indikatoren (KPI), die mehr über die Qualitäten einer Mannschaft aussagen, als die Frage, ob ein Spieler 9,4 oder 10,3 Kilometer weit gelaufen ist.

310 Millionen Datenpunkte aus über 4200 gespielten Minuten

Ein solcher KPI ist beispielsweise der Pressingindex. Er besagt, wie schnell eine Mannschaft nach Ballverlust den Gegner attackiert. Ein anderer Indikator ist die Raumkontrolle. Sie beschreibt die Herrschaft einer Mannschaft über die Räume auf dem Fußballfeld und ist durch jene Rasenfläche definiert, die Spieler einer Mannschaft vor den Spielern der gegnerischen Mannschaft erreichen können. Ein dritter KPI ist der Pass-Effektivitätsparameter. Er beschreibt, wie effizient Gegenspieler durch einen Pass in Vorwärtsrichtung ausgeschaltet werden.

In einer groß angelegten Studie, finanziert durch die Deutsche Fußball Liga, hat Memmert 50 Spiele der Bundesligasaison 2014/15 mit Soccer analysiert. Das waren 310 Millionen Datenpunkte aus über 4200 gespielten Minuten. Demnach entscheiden die drei erwähnten Indikatoren - Raumkontrolle, Pressingindex und Pass-Effektivitätsparameter - über Sieg und Niederlage. "Anhand dieser Parameter kann man die oberen und unteren Tabellendrittel vorhersagen", sagt Memmert.

Es gibt diverse Tools, mit denen sich die Positionsdaten der Spieler verarbeiten lassen. Dazu zählen InStat Scout, Wyscout, Scout 7 und OptaPro. Eine Besonderheit von Soccer ist jedoch die Verwendung künstlicher neuronaler Netze. Das sind dem menschlichen Gehirn nachempfundene Computeralgorithmen. Ein entsprechend programmiertes digitales Neuron reagiert zum Beispiel wie ein geschultes Auge auf eine bestimmte Spielsituation, etwa auf einen Pass vom Mittelfeld in den Strafraum, der über mindestens fünf Gegenspieler hinweg geht.

Den Trainer kann keine noch so gute Datenanalyse ersetzen

Mit Hilfe dieses speziellen Neurons können die Forscher in Sekundenschnelle zahlreiche Spiele auf die gesuchte Spielsituation hin scannen. Der Vergleich hilft, die Bedeutung der Spielsituation einzuschätzen. Entsprechend lassen sich mit anders programmierten Neuronen andere Formationen oder Aktionen aus Spielen herauslesen und vergleichen.

Soccer eignet sich somit laut Memmert bestens für internationales Scouting. "Angenommen ein Scout möchte wissen, welcher Linksaußen den besten Pressingindex hat. Dann kann er anhand der Positionsdaten aus den entsprechenden Ligen mit einem Klick die Rangliste der zehn besten Pressing-Linksaußen vom letzten Wochenende zusammenstellen." Kein Scout sei in der Lage, so viele Spiele anzuschauen, wie das Tool sekundenschnell analysiere. "So kann ein Scout in Zukunft aus einem viel größeren Datenpool vorselektieren."

Natürlich lassen sich die Daten auch für die Spielvorbereitung nutzen. "Wenn ich mehr über den Gegner weiß, wenn ich mehr weiß, wie meine eigene Mannschaft spielt, dann habe ich auch mehr Informationen, um Training und Taktik adäquat zu steuern", sagt Memmert. In der Praxis macht der Wissenschaftler das bereits bei der Jugend von Red Bull Salzburg. "Diese Mannschaft hat die Uefa Youth League 2017 gewonnen", sagt Memmert. Natürlich sei es schwierig zu sagen, welcher Anteil am Erfolg auf das Konto der Big-Data-Analyse gehe. Aber immerhin.

Etliche Fußballverbände beschränken sich noch auf alte Parameter

Etliche Fußballverbände beschränken sich allerdings noch auf quantitative Daten wie Ballbesitz, Anzahl der Pässe, Schüsse aufs Tor, Laufdistanz oder die Anzahl der Sprints. Taktische Daten oder Parameter wie ein Offensiv- oder ein Defensivindex werden seltener erhoben. Aktuell werden die Daten vor allem dazu genutzt, um zu prüfen, ob und wie gut ein Spieler eine Aufgaben umgesetzt habe. Hilfreicher wäre es allerdings, aus den Daten auch taktische Schlüsse ziehen zu können.

Ganz einfach ist das nicht. Ein Schwachpunkt von Analysetools wie Soccer ist laut Memmert, dass es informatische Grundkenntnisse braucht, um die Daten gut aufzubereiten. "Man muss die wichtigen von den unwichtigen Parametern trennen", sagt Memmert. "Da kann man sich ziemlich leicht verzetteln." Das dürfte umso mehr der Fall sein, wenn künftig weitere Daten einfließen, etwa die Blickrichtung oder die Hirnaktivität der Spieler, die Auskunft darüber geben, wie schnell die Kicker neue Spielsituationen wahrnehmen und darauf reagieren können. "Die Wissenschaft steht vor der Aufgabe, Modelle zu entwickeln, wie diese Daten miteinander zusammenhängen", sagt Memmert.

Für ihn ist die Spielanalyse auf Basis von Big Data aus dem modernen Profifußball nicht mehr wegzudenken. "Aber das wird den Trainer nie ersetzen. Es braucht immer noch sein Gehirn, um geeignete Schlüsse aus den Indizes zu ziehen." Das Geschick und das Bauchgefühl des Trainers, der taktische Maßnahmen ausarbeitet, wird noch lange wichtiger sein als die Positionsdaten aus dem Computer. Die makellose Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2018 hat das DFB-Team schließlich auch ohne taktische Big-Data-Analyse hinbekommen.

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