Berlinale-Gewinner Călin Peter Netzer im Interview:"Du musst Dich anpassen, um zu überleben"

Mutter und Sohn Luminita Gheorghiu und Ilinca Goia

Der einen geht es um das eigene Fleisch und Blut, der anderen um den Partner: Mutter Cornelia (Luminita Gheorghiu, rechts) macht der Freundin ihres Sohnes (Ilinca Goia) Vorwürfe.

(Foto: X Verleih)

Er ist der neueste Regie-Star des rumänischen Kinos: Călin Peter Netzer triumphierte mit seinem Familiendrama "Mutter und Sohn" bei der diesjährigen Berlinale, für das er den Goldenen Bären gewann. Heute kommt der Film in die deutschen Kinos. Ein Gespräch über den ungewöhnlichen Erfolg von Filmemachern aus Rumänien, Korruption - und eine Mutter als Monster.

Von Paul Katzenberger

Er ist 1975 in den rumänischen Karpaten zur Welt gekommen, doch Călin Peter Netzer hat enge Beziehungen zu Deutschland: Als sein Vater nach einer Dienstreise in Deutschland blieb, kam er mit seiner Mutter 1983 nach. Im Schwäbischen hielt es Netzer bis zum Abitur im Jahr 1994, danach zog es ihn zurück nach Rumänien - auf die Filmakademie in Bukarest. Sein Spielfilmdebüt "Maria" feierte er im Jahr 2003, mit dem er sogleich den Spezialpreis der Jury beim Filmfestival von Locarno gewann. "Mutter und Kind" ist Netzers dritter Spielfilm, bei dem er erneut auf die bewegliche Handkamera setzt. Das Publikum kommt so fast hautnah an die Figuren und ihren existenziellen Konflikt heran: Ein junger Mann aus der rumänischen Oberschicht hat ein unschuldiges Kind überfahren und muss sich deswegen verantworten. Seine einflussreiche Mutter greift ein, aber nur teilweise, um ihn zu beschützen. Sie will den verlorenen Sohn zurückgewinnen. Bei der Berlinale gab es für das Familiendrama in diesem Jahr den Goldenen Bären.

SZ.de: Herr Netzer, Sie haben einen großen Teil Ihrer Jugend in Deutschland verbracht. Empfinden Sie es als Zufall, dass Sie mit dem Goldenen Bären den wichtigsten deutschen Filmpreis gewonnen haben, oder war es doch ein bisschen Fügung? Ihr Film "Mutter und Sohn" hätte ja vielleicht auch in Cannes oder Venedig gewinnen können.

Călin Peter Netzer: Vor allem war es wohl Zufall. Der Film war im Dezember fertig. Da kam als erstes großes Festival die Berlinale, und dorthin haben wir ihn geschickt. Aber vielleicht wollte ich eigentlich nach Berlin und nicht nach Cannes, das kann sein.

Warum denn das? Alle Welt will nach Cannes.

In Cannes waren schon sehr viele rumänische Filme erfolgreich, das ist dort fast schon alltäglich. Und es wäre da auch etwas komplizierter gewesen, den Film im Wettbewerb unterzubringen. Denn ich war noch nie in Cannes, und bei Thierry Fremaux (Cannes-Festivalchef, Anm. d. Red.) ist es üblich, dass sich die Regisseure über Nebenreihen wie "Un certain regard" in den Wettbewerb hocharbeiten.

Wie erklären Sie sich den enormen Erfolg rumänischer Filmemacher auf den großen Festivals? In Cannes hat Cristian Mungiu 2007 die Goldene Palme gewonnen, Cristi Puiu hat 2005 bei "Un certain regard" triumphiert. Bei der Berlinale war Cristi Puiu auch schon erfolgreich, genauso wie Florin Serban und jetzt Sie.

Es gibt da kein Geheimnis, glaube ich. Es ist nicht so kompliziert, wie manche denken. Es hat sich in Rumänien einfach eine talentierte Generation gebildet, und wir stimulieren uns gegenseitig bei gesunder Konkurrenz. Angefangen bei Cristi Puiu haben wir eine Ästhetik des Realismus geschaffen, bei der wir mit wenig Geld viel sagen. Wir reden über Sachen, die wir gelebt haben. Wir versuchen so ehrlich wie möglich zu sein, und ich glaube, das spürt der Zuschauer.

In "Mutter und Sohn" beschreiben sie jetzt die pathologische Beziehung zwischen einer extrem besitzergreifenden Mutter und ihrem neurotischen Sohn. Gleichzeitig zeichnen Sie ein Bild der Korruption in Rumänien. Gibt es für Sie einen Zusammenhang zwischen der Mutter-Sohn-Beziehung und der bestechlichen Gesellschaft?

Das Wesentliche für meinen Ko-Drehbuchautor Razvan Radulescu und mich war die Mutter-Sohn-Beziehung, die für uns beide partiell autobiographisch ist. Die Rahmenhandlung in der rumänischen Gesellschaft wählten wir aus dramaturgischen Gründen - mit dem Ziel, die 30 gemeinsamen Jahre von Mutter und Sohn auf die fünf Tage der Extremsituation zu verdichten, die der im Film beschriebene Autounfall des Sohnes nach sich zieht. Außerdem bot sich Rumänien als Ort der Handlung für mich an, weil ich da seit 1994 lebe und mich mehr als Rumäne fühle als als Deutscher.

Sie sagen, der Film habe zum Teil autobiografische Züge. Hatten Sie auch eine derartig bestimmende Mutter?

Zum Teil schon. Bis ich fast 30 war, wollte sie mein Leben bestimmen, natürlich völlig unbewusst. Bei meiner Entscheidung, Filmemacher zu werden, hat sie mich zum Beispiel sogar unterstützt, doch sie war dagegen, dass ich nach Rumänien zurückgehe. Sie hätte es gerne gehabt, dass ich in München oder Berlin oder in den Staaten Film studiere. Als ich mit meiner Mutter Rumänien 1983 verlassen habe, da hatte ich keine andere Wahl als mit ihr nach Stuttgart zu gehen, ich war damals ein Kind. Doch nachdem ich volljährig geworden war, habe ich mich entschlossen zurückzukehren. Sie wollte das nicht.

Die Kameraführung in "Mutter und Sohn" ist sehr unruhig. Was hat Sie und Ihren Kameramann Andrei Butica zu dieser Rastlosigkeit veranlasst?

Normalerweise bin ich ein Kontrollfreak, der bei seinen Filmen über jede Location nachdenkt und jede Einstellung im Kopf hat, bevor überhaupt gedreht wird. Doch dieses Mal wollte ich es bewusst anders machen, weil das Thema emotional sehr nah an mir dran war. Deswegen habe ich Andrei Butica und dem zweiten Kameramann die Freiheit gegeben, die Geschichte so zu erzählen, wie sie sie im Moment empfinden. Das Ziel war, mit den Kameras mittendrin zu sein. Die Regel war, keine Regeln zu haben.

"Das korrupte System ist ihr in Fleisch und Blut übergegangen"

Ein wohlhabendes Land wie Deutschland bietet sicher auch oft den Nährboden für die Konstellation, die Sie zeigen: ein Einzelkind, eine reiche Familie und eine dysfunktionale Beziehung der Eltern zueinander. Hätte sich Ihre Geschichte auch hier abspielen können?

Ja sicher. Wir erzählen ein Geschehen, das sich in jedem Land der Welt ereignen könnte. In Deutschland würde es mit Sicherheit anders ablaufen, aber die Essenz würde bleiben. Ich glaube, die Macht und Mentalität, die die Mutter im Film hat, hätte Sie in Deutschland nicht in dieser ausgeprägten Form.

Berlinale-Sieger Călin Peter Netzer

Berlinale-Sieger Călin Peter Netzer: "Es ist ein Grundbedürfnis des Menschen, seinen eigenen Prinzipien treu zu bleiben und sich selbst gegenüber ehrlich zu sein."

(Foto: Paul Katzenberger)

Warum genau?

Da ist zunächst das korrupte System, in dem die Mutter als Architektin reüssiert hat, und das ihr in Fleisch und Blut übergegangen ist. Die Form der Machtausübung, die sie zeigt, ist sie gewohnt. Wichtig ist aber auch, dass sie nach eigenem Empfinden jahrzehntelang Opfer gebracht hat.

Opfer für den beruflichen Erfolg oder im Privatleben?

In beiden Bereichen, vor allem aber im Privatleben. Die Mutter ist ja nicht von heute auf morgen zum Monster geworden, sondern über einen langen Zeitraum. Viele Jahre ist sie in einer eigentlich gescheiterten Ehe geblieben - für den Sohn. Für sie war das eine Entschuldigung, sich nicht scheiden zu lassen. Im Westen hätte sie sich wahrscheinlich von ihrem Mann getrennt. Statistisch gesehen gab es während des Kommunismus viel seltener Scheidungen als im Westen. Ich habe das sehr oft von Leuten ihrer Generation gehört, dass sie sich für die Kinder geopfert haben.

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass sich Ehepaare in kommunistischen Ländern weniger scheiden ließen als im Westen?

In repressiven Systemen, wie sie in den kommunistischen Ländern damals vorgeherrscht haben, können Menschen ihre Lebensziele oft nicht verwirklichen. Das führt dazu, dass sie ihre eigenen Wünsche auf die Kinder projizieren. Sie wollen für ihre Kinder mehr als was sie hatten. Eine Scheidung stellt dieses Kalkül aber in Frage.

Am Anfang des Filmes widersetzt sich die Polizei, die den Sohn festhält, weil er einen Jungen überfahren hat, den Einmischungen der Mutter. Die Beamten zeigen offen, was sie von so einem Verhalten halten. Doch schon am nächsten Tag sind die Polizisten ganz zahm. Warum siegt bei Ihnen die Korruption dann doch?

Die Polizisten sind jünger als die Mutter. Sie gehören einer Generation an, für die die Moral einen höheren Stellenwert hat, und die an den gesellschaftlichen Verhältnissen etwas verändern will. Doch wenn sie dann Direktiven von oben bekommen, merken sie, dass sie keine echte Chance haben, die Dinge zu verändern. Das führt dann oft zu einer Haltung etwa in dem Sinne: 'Wenn ich mich mit dem Fall jetzt schon befassen muss, dann denke ich auch an meine eigenen Interessen.'

Die Korruption ist also nach wie vor da, nur mit Verzögerungseffekt. Hat sich in Rumänien in den vergangenen Jahren irgendetwas in dieser Hinsicht verbessert?

Ein bisschen. Wenn sie die Polizisten nehmen, dann wären die Verhältnisse vor zehn Jahren von Beginn an so gewesen wie am zweiten Tag im Film. Prinzipiell wollen die Beamten den Fall am Anfang so bearbeiten, wie es korrekt ist. Das ist ein Fortschritt, aber es geht nur langsam voran.

"Es wird lange dauern, bis wir einen echten Fortschritt erleben"

Begünstigte der EU-Beitritt Rumäniens im Jahr 2007 diese Entwicklung?

Mit Sicherheit. Die Leute verreisen jetzt viel mehr. Sie lassen sich nicht mehr allein durch das Fernsehen beeinflussen, sondern bilden sich ihre eigene Meinung. Es ist ein Grundbedürfnis des Menschen, seinen eigenen Prinzipien treu zu bleiben und sich selbst gegenüber ehrlich zu sein. Andererseits kann man sich die Gesellschaft, in der man lebt, nicht aussuchen. Du musst Dich anpassen, um zu überleben. Und deswegen wird es vermutlich noch lange dauern, bis wir einen echten Fortschritt erleben.

Mutter und Sohn Barbu Bogdan Dumitrache

Eigene Wünsche auf das Kind projiziert: Sohn Barbu (Bogdan Dumitrache) zu Besuch bei den Eltern.

(Foto: X Verleih)

In der rumänischen Originalfassung heißt Ihr Film "Die Stellung des Kindes". Was wollten Sie mit diesem Titel zum Ausdruck bringen?

Die "Stellung des Kindes" ist eigentlich eine Entspannungs-Übung beim Yoga. Bei ihr wird die Stellung des Fötus im Bauch der Mutter eingenommen. Es gab eine Szene im Film, in der die Mutter diese Übung macht. Das wurde zwar rausgeschnitten, doch wir entschieden uns, den Titel beizubehalten. Denn die "Stellung des Kindes" steht in diesem Film für viel mehr als diese Übung. Mit diesem Titel lässt sich auch die Stellung des Kindes gegenüber den Eltern beschreiben oder die Stellung des überfahrenen Kindes, das wir nie sehen, und so weiter. Dieser Titel erlaubt viele Erklärungen.

Das klingt nach einer überzeugenden und vielseitigen Metapher. Warum haben Sie den ursprünglichen Titel für die deutsche Fassung dann in "Mutter und Sohn" geändert?

Fragen Sie mich nicht.

War da mal wieder der Verleiher am Werk?

Ja. Vielleicht würde das breite Publikum den Titel "Stellung des Kindes" nicht verstehen, oder vielleicht wäre er zu didaktisch. "Mutter und Sohn" ist sehr einfach, sehr direkt und komprimiert. Vielleicht funktioniert das in Deutschland besser. Ich kann das nicht beurteilen, weil ich seit 20 Jahren nicht mehr hier lebe. Die Umbenennung wird aber wohl keinen Schaden anrichten. Mit dem deutschen Titel, dem Trailer und dem Poster sollen Zuschauer erreicht werden, die sich den Film normalerweise nicht anschauen würden. Doch die anderen - die Arthouse-Fans - verliert man deswegen nicht.

Sie haben mittlerweile ja schon Erfahrungen mit dem Mainstream-Publikum, denn "Mutter und Sohn" war im rumänischen Kino schon zu sehen. Wie waren dort die Reaktionen im Vergleich zur Rezeption auf der Berlinale, die überwiegend positiv war?

Auch in Rumänien waren die Reaktionen generell positiv, von den Kritikern bis zum Publikum. Wir hatten 100.000 Zuschauer, in Rumänien ist das in den letzten zehn bis 15 Jahren ein Rekord. Mein Film hat dem Publikum ganz offensichtlich gefallen, das erkennt man auch an der Mund-zu-Mund-Propaganda, von der er profitierte: Wir hatten in der dritten Woche, als der Film schon nicht mehr beworben wurde, mehr Zuschauer als in der ersten Woche.

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