Aufstiegschancen:Ohne Studium kein Chefsessel?

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Martin Schulz hat geschafft, was nur wenigen gelingt: eine steile Karriere trotz Schulabbruch. (Foto: Getty Images)

Martin Schulz hat die Schule abgebrochen, jetzt ist er Kanzlerkandidat. In der Wirtschaft gibt es solche Karrieren nur in wenigen Branchen.

Von Martin Scheele

Nehmen wir Martina Wenta. Die 51-Jährige ist Personalchefin von Center Parcs, dem Ferienparkbetreiber. Wenta führt von ihrem Büro in Köln Bewerbungsgespräche, sie verhandelt Verträge, sie kümmert sich um Gehaltsfragen der rund tausend Mitarbeiter in den deutschen Parks. Wenta hat nicht etwa Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Personal studiert, sondern ging zur Realschule und absolvierte anschließend eine zweijährige Ausbildung an einer Hotelfachschule.

Karriere ohne Studium? Führungskraft ohne Hochschulabschluss - geht das überhaupt? Kann es heutzutage ein Realschulabgänger bis zum Vorstand eines Dax-Unternehmens schaffen? Oder ist das nahezu ausgeschlossen? Und wenn ja, was brauchen Aufstiegswillige, um das vermeintliche Defizit wettzumachen?

Martin Schulz, 61, macht gerade vor, dass jemand aus bescheidenen Verhältnissen - der Vater war Polizeibeamter - und mit Mittlerer Reife als Führungskraft reüssieren kann. Der Kanzlerkandidat der SPD für die Bundestagswahl im September hat eine beeindruckende Karriere hingelegt, nicht in der Wirtschaft, sondern in der Politik. Von 2012 bis 2017 war er Präsident des Europäischen Parlaments. Nun tritt der einstige Schulabbrecher und gelernte Buchhändler gegen die promovierte Physikerin Angela Merkel an.

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Lässt sich das auf eine Karriere in deutschen Wirtschaftsunternehmen übertragen? Wissenschaftler haben Zweifel. "Die Chance, ohne Studium bis in die Führungsetage aufzurücken, ist minimal", sagt Michael Hartmann, emeritierter Professor für Soziologie und Elitenforscher aus Darmstadt. "Von den heutigen Vorstandsmitgliedern der 100 größten deutschen Unternehmen haben mehr als 95 Prozent ein Studium absolviert. Knapp 85 Prozent waren an einer Universität, jeweils ungefähr fünf Prozent an einer Fachhochschule oder einer Berufsakademie."

Eine Ausnahme von der Regel ist Jan-Dirk Auris. Heute 48 Jahre alt, erklomm er 2011 einen Vorstandsitz beim Konsumgüterkonzern Henkel und übernahm gleich die größte Sparte, den Klebstoffbereich. Den ersten Schritt für den Aufstieg machte der Kölner Mitte der Achtzigerjahre mit einer Lehre am Düsseldorfer Stammsitz. Schon damals fiel seinen Ausbildern auf, dass dieser Azubi ein ausgeprägtes Verkäufer-Gen hatte. Einen Auto-Führerschein besaß er noch nicht, aber per Moped besuchte er die Kunden, um sie über ihre Meinung zu Klebstoff zu befragen, was keineswegs auf seinem Ausbildungsplan stand. Dass der Azubi später einmal das gesamte Klebstoffgeschäft leiten würde, ahnte damals natürlich noch niemand.

Eine weitere Ausnahme von der Regel ist Karl Ulrich Garnadt. Für den 60-Jährigen gilt: Einmal Lufthansa, immer Lufthansa - ein Berufsleben für den Konzern. Wie Auris arbeitete sich Garnadt vom Azubi bis zum Vorstand hoch. Doch im Unterschied zum Endvierziger Auris geht Garnadt in diesem Jahr in Rente. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein Akademiker für ihn nachrücken wird. So wie dies meistens der Fall ist. Als vor zwei Jahren beim Rückversicherer Munich Re der Europa-Vorstand und Nicht-Akademiker Georg Daschner die Pension antrat, wurde eine Juristin zu seiner Nachfolgerin. Beim Münchner Dax-Konzern ist akademische Bildung offenbar ein wichtiges Auswahlkriterium: Neun von insgesamt zehn Vorständen haben sogar promoviert.

Legen vor allem die großen börsennotierten Unternehmen Wert auf akademischen Stallgeruch? Nein, sagt Marko Reimer, Professor am Institut für Management und Controlling an der WHU Otto Beisheim School of Management in Vallendar. "Unterschiedliche Studien zeigen, dass der Anteil von Vorstandsmitgliedern ohne akademischen Hintergrund generell nicht größer als zehn Prozent ist, ganz unabhängig von der Unternehmensgröße. Auch in vielen anderen Ländern ist das so."

Eine der wenigen Ausnahmen bei den mittelgroßen Unternehmen ist Postbank-Chef Frank Strauß, von Beruf Bankkaufmann. Oder Beispiel Aufsichtsräte: Einer der mächtigsten in Deutschland ist Werner Wenning, der einst Industriekaufmann gelernt hat.

Warum also halten viele Unternehmen ein Studium offensichtlich für unverzichtbar? Manche Firmen wie die Postbank oder Henkel wollten dazu nicht Stellung nehmen. Für Organisationsforscher Marko Reimer ist klar, dass man in einem guten Studium eben genau das lerne, was man im Zeitalter der Digitalisierung brauche: analytisches Denken, methodisches Vorgehen, strategische Problemlösung und das theoretische Durchdringen von Themen. Aber auch andere Faktoren spielen eine Rolle: "Zum Beispiel der Habitus: eine gewisse Sprache, die Vertrautheit mit akademischen Gepflogenheiten."

Verändern sich die Karrierechancen für Nicht-Akademiker in Zeiten des Fachkräftemangels? Werden auch die Chefetagen durchlässiger für Uni-Verweigerer? "Nein, wir gehen davon aus, dass dieser Wert in Zukunft eher noch abnimmt", sagt Reimer. Insofern ist Henkel-Vorstand Auris ein ganz besonderes Exemplar. Elitenforscher Hartmann sagt: "In der jüngeren Alterskohorte der ab 1965 geborenen Manager sind sogar nur 2,6 Prozent ohne Studienabschluss."

Das Studium wird zum Regelfall

Nicht-Akademiker in Führungspositionen werden auch deshalb in Zukunft seltener, weil immer mehr Schulabgänger an die Hochschulen streben. Während 1970 nur zwölf Prozent eines Jahrgangs ein Studium aufnahm, sind es heute etwa 55 Prozent. Hinzu kommt ein selbstverstärkender Effekt: Von 100 Kindern aus Akademikerfamilien studieren 70. Von 100 Kindern aus Arbeiterfamilien studieren 23. Die Herkunft bestimmt den Bildungsweg.

"Damit steigt natürlich auch die Erwartungshaltung von Arbeitgebern und somit die Konkurrenz unter den Berufseinsteigern", sagt WHU-Forscher Reimer. Soziologe Hartmann meint: "Die entscheidende Hürde besteht darin, dass alle anderen Personen auf diesem Level ebenfalls studiert haben und das für eine Spitzenkarriere auch als unverzichtbar ansehen."

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Für die Forscher ist das mittlere Management in den Unternehmen, das Terrain der Abteilungsleiter und Bereichschefs, die wirkliche Hürde für den Aufstieg. "Wer es hier ohne Studium hereinschafft, der kann es dann auch in die Führungsetage schaffen", sagt Hartmann. Headhunter, die tagaus, tagein mit den Personalabteilungen in Firmen zu tun haben, bestätigen das. "Ein nennenswerter Aufstieg ohne Studium ist heute nahezu unmöglich, da man in den klassischen Auswahlverfahren durch das Raster fällt", erklärt Christine Stimpel, Partnerin der amerikanischen Personalberatung Heidrick & Struggles.

"Nicht-Akademiker brauchen sehr, sehr viel Glück, um an ihr Ziel zu kommen", sagt Hubertus Graf von Douglas, in gleicher Funktion beim Wettbewerber Korn Ferry. Ulrike Wieduwilt von der Personalberatung Russell Reynolds meint: "Einzige Chance ist, ein Start-up gründen, es extrem erfolgreich machen und dann an einen Konzern verkaufen und so in den Führungskader einsteigen."

Doch es gibt auch Unterschiede je nach Branche. "Im Handel und im Dienstleistungssektor lässt sich ein fehlender Studienabschluss durch Praxiserfahrung und individuelle Leistung zumindest hin und wieder kompensieren", sagt Hartmann. Seiner Studie zufolge hat hier immerhin jeder zehnte Vorstand seine Position ohne Studium erreicht.

Center-Parc-Managerin Wenta und ihre Kollegen sind dafür ein gutes Beispiel. Etwa 75 Prozent der Center-Parc-Führungskräfte haben nicht studiert. "Viele unserer Führungskräfte haben sich ohne Studium in ihren Fachgebieten weitergebildet", sagt Wenta. "In unserer Branche sind die operativen Kenntnisse und die Fähigkeit, Menschen zu führen, viel wichtiger als das theoretische Wissen."

© SZ vom 04.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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