Stents:Pseudo-Operation am Herzen

Medizintechnik-Unternehmen Cortronik

In Deutschland werden besonders viele der Drahtgeflechte in die Herzkranzgefäße eingeführt.

(Foto: dpa)

Nirgendwo werden so viele Gefäßstützen in die Herzen eingepflanzt wie in Deutschland. Doch die OP hilft bei manchen Patienten nicht besser als ein Placebo-Eingriff.

Von Werner Bartens

Glaube versetzt nicht nur Berge, sondern hält auch die Herzkranzgefäße elastisch. Anders lässt sich die Wirkung kaum erklären, die mit einer Scheinbehandlung verengter Koronararterien erzielt werden kann. Ärzte vom Imperial College in London berichten im aktuellen Fachmagazin Lancet davon, auch wenn in der Medizin statt von Glauben lieber vom Placebo-Effekt gesprochen wird - oder von einer positiven Erwartungshaltung, die Patienten schneller gesunden und ihr Leiden besser ertragen lässt.

Ein Team um die Kardiologin Rasha Al-Lamee hat 200 Patienten mit Angina Pectoris behandelt. Die "Brustenge" war bereits so weit fortgeschritten, dass die Stenose der verkalkten Kranzgefäße mehr als 70 Prozent betrug, die Adern aber noch nicht komplett verstopft waren. Der Hälfte der Herzpatienten wurde ein Stent in das eingeengte Gefäß gelegt. Die andere Hälfte wurde zwar auch für mindestens 15 Minuten sediert und bekam einen Katheter in die Leistenarterie eingeführt - dieser wurde jedoch nach einiger Zeit wieder gezogen, ohne dass ein Drahtröhrchen in den Koronarien verankert wurde. Zu welcher der beiden Gruppen sie gehörten und ob sie einen Stent bekommen hatten oder nicht, wussten die Probanden ebenso wenig wie die Ärzte und Pfleger, die die Patienten anschließend betreuten.

Nirgendwo werden so viele Stents eingesetzt wie in Deutschland

Die Engstelle wurde durch den Stent erweitert und von innen offengehalten, dennoch ging der Nutzen der drahtigen Gefäßstütze kaum über jenen der Placebo-Behandlung hinaus. Zwar konnten die mit einem Stent versorgten Patienten ein paar Wochen später etwas länger ihr Herz belasten, ohne Beschwerden zu bekommen, doch der Unterschied zu den Teilnehmern ohne Stent fiel vergleichsweise gering und daher statistisch nicht signifikant aus.

"Obwohl Stents den Blutfluss erleichtern können, führen sie bei stabiler Angina Pectoris überraschenderweise nicht zu einer zusätzlichen Verbesserung der Symptome", sagt Al-Lamee. "Das heißt allerdings nicht, dass nicht doch manche Patienten von dem Eingriff profitieren, besonders wenn ihre Gefäße vollständig blockiert sind." Es sei aber ein gedanklicher Kurzschluss, von der Erweiterung einer zuvor verengten Koronararterie automatisch darauf zu schließen, dass die Patienten anschließend weniger Beschwerden hätten.

"Diese Ergebnisse liefern gute Argumente dafür, es bei stabiler Angina Pectoris erst mal medikamentös zu versuchen", sagt Andreas van de Loo, Chef der Kardiologie am Marienkrankenhaus in Hamburg. "Das ließ sich aus früheren Studien wie Courage schon ableiten und wird auch in den Leitlinien so empfohlen." Doch viele Ärzte halten sich nicht daran, schließlich kann sich Deutschland mit dem fragwürdigen Titel des Weltmeisters der Herzkatheter-Eingriffe schmücken. Nirgendwo sonst werden im Verhältnis zur Bevölkerung so viele Kranzarterien geweitet und mit Drahtgeflechten gestützt - ohne dass die Menschen deshalb länger von einem Infarkt oder anderen kardialen Komplikationen verschont bleiben als in anderen Ländern mit guter medizinischer Versorgung.

Womöglich spielt auch der vermeintliche oder tatsächliche Patientenwunsch eine Rolle für die Überversorgung. "Wenn die Leute hören, dass sie eine 70-prozentige Stenose haben, wollen sie die doch geöffnet haben", ist van de Loo überzeugt. "Sonst rennen sie zum nächsten Kardiologen." Dabei ist der Stent-Eingriff alles andere als harmlos. Zwar ist der Zugang minimal invasiv, doch Patienten müssen anschließend sechs bis zwölf Monate Medikamente zur Blutverdünnung einnehmen, deshalb steigt - gerade bei älteren Menschen - ihr Blutungsrisiko und Hirnblutungen können häufiger auftreten.

Placebo-Injektionen helfen umso besser, je größer die Spritze ist

Mehr als 500 000 Aufdehnungen der Herzkranzgefäße werden jedes Jahr weltweit zur Behandlung einer stabilen Angina Pectoris vorgenommen. Dafür wurde der Eingriff mit dem Katheter ursprünglich entwickelt; Patienten sollten ihre Beschwerden genommen werden. Gründliche Analysen wie die Courage-Studie und die jetzige Untersuchung haben in jüngster Zeit jedoch gezeigt, dass der Nutzen des Eingriffs nur begrenzt ist. Von nicht "verblindeten" Studien, in denen die Probanden wussten, ob sie einen Stent bekamen oder nicht, wurde hingegen immer wieder berichtet, dass die Gefäßstütze Beschwerden linderte und die Lebensqualität verbesserte. Das zeigt, mit welcher Macht subjektive Erwartungen die Genesung beeinflussen: "Patienten werden den tatsächlichen Eingriff für vorteilhafter halten und besser bewerten", sagt Al-Lamee. "Die Auswirkung der Gefäß-Aufdehnung wird überschätzt und der Scheineingriff wie eine unterlassene Behandlung gedeutet."

Die Medizin kennt zwar erstaunliche Placebo-Effekte in allen Fachgebieten, vernachlässigt aber oft, wie wirksam die Scheinbehandlung sein kann: Placebos in Tablettenform können Schmerzen um 30 bis 40 Prozent verringern. Placebo-Injektionen helfen umso besser, je größer die Spritze ist und je tiefer sie eindringt. Sogar Schein-Operationen wirken, auch wenn Chirurgen oftmals bestreiten, dass sich Eingriffe im Placebo-Vergleich überhaupt testen lassen.

Dabei haben Orthopäden schon 2002 gezeigt, dass die tatsächliche Knie-Spiegelung nicht mehr Linderung verschafft als eine Schein-Intervention am Gelenk und dass auch Rücken-Operationen häufig nur via Placebo-Effekt Schmerzen lindern. 2014 zeigte eine große Analyse, dass von mehr als 50 Interventionen - die meisten davon waren endoskopische Eingriffe - nur die Hälfte besser wirken als die konservative Behandlung.

Der Chirurg und langjährige Präsident der Berliner Ärztekammer, Günther Jonitz, hat schon vor Jahren vor "ritueller Chirurgie" und "MicMac-Operationen" gewarnt - das sind minimal invasive Eingriffe mit maximalen Komplikationen, die nur noch aus überkommener Tradition und fehlender Einsicht vorgenommen werden, aber nicht zum Wohle der Patienten. Die aktuelle Untersuchung aus London weist darauf hin, dass auch die Koronarangiografie mit Stent-Einlage einen Großteil ihrer Wirkung aus dem Placebo-Effekt beziehen könnte und auf den Prüfstand gehört. "Mein Denken beeinflusst die englische Studie schon", sagt Kardiologe van de Loo. "Nach einem Stent-Eingriff will man das als Arzt ja auch so wahrnehmen, dass die Patienten zufriedener sind und einen anstrahlen."

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