Sportmedizin:Fahrlässigkeit im Finale

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Der deutsche Fußballspieler Christoph Kramer prallte im WM-Endspiel 2014 mit dem Argentinier Ezequiel Garay zusammen. Trotz einer schweren Gehirnerschütterung spielte er zunächst weiter. (Foto: Natacha Pisarenko/AP)

Ärzte kritisieren: Gehirnerschütterungen im Fußball werden unterschätzt. Sogar während der WM 2014 seien krasse Fehler passiert. Bestes Beispiel ist Christoph Kramer.

Von Werner Bartens

Christoph Kramer hat nur verschwommene Erinnerungen an das WM-Endspiel gegen Argentinien am 13. Juli 2014 - und das ist wörtlich zu verstehen. Obwohl der Nationalspieler daran teilgenommen hat und mit dem deutschen Team Weltmeister wurde, ist der Tag des Triumphs fast komplett aus seinem Gedächtnis verschwunden.

Kramer war erst kurzfristig in die Startelf gerückt, doch sein Glück hielt nicht lange. In der 17. Spielminute prallte er heftig mit Ezequiel Garay zusammen. Der Argentinier hatte mit voller Wucht seine Schulter gegen Kramers Kopf gerammt. Der Mittelfeldspieler blieb benommen liegen, wurde kurz an der Seitenlinie von Mannschaftsarzt Müller-Wohlfahrt untersucht - und spielte weiter.

In den folgenden Minuten lief Kramer desorientiert auf dem Platz herum. Seine Bewegungen waren ungelenk. Er fragte wiederholt den Schiedsrichter, wo er sich befinde und ob er gerade das WM-Endspiel spiele - die Antwort sei wichtig für ihn. Anfangs dachte der Referee an einen Scherz, dann wies er Bastian Schweinsteiger an, seinen Kameraden auswechseln zu lassen. Es dauerte jedoch bis zur 31. Minute, bis Kramer vom Platz genommen wurde. Anschließend wurde eine schwere Gehirnerschütterung bei ihm festgestellt.

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Neurochirurgen von der Universität Toronto haben sich nicht nur das Finale, sondern alle 64 Spiele der Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien angeschaut. Die Ärzte um Michael Cusimano waren überrascht, wie selten sich Mannschaftsbetreuer und Teamärzte an die - auch von der Fifa übernommenen - Regeln hielten, wie nach einem Aufprall auf den Kopf zu verfahren ist.

Demnach sollen Fußballer nach einem Zusammenstoß und dem kleinsten Hinweis auf eine Gehirnerschütterung sofort das Spielfeld verlassen und an der Seitenlinie von Ärzten untersucht werden - am besten von unabhängigen Medizinern, die nicht zum Team gehören, weil sonst die Gefahr besteht, dass die Sportler zu früh wieder ins Geschehen eingreifen. Zudem müssen Athleten auf Topniveau vor ihrem eigenen Ehrgeiz geschützt werden, der sie jedes Risiko vergessen lässt.

Der Sport reagiert auf Kritik zu langsam, sagt ein Mediziner

"Bei der Weltmeisterschaft 2014 sind die Spieler gar nicht oder nur selten nach einem Zusammenstoß auf eine Gehirnerschütterung untersucht worden", beklagt Cusimano. "Und das, obwohl oft bedenkliche Zeichen für eine Gehirnerschütterung vorlagen." Die Ärzte hatten in den 64 Spielen 72 Kollisionen mit dem Kopf beobachtet. Nur bei 17 Prozent der Zusammenstöße waren keine Symptome einer Gehirnerschütterung zu erkennen, bei 56 Prozent lagen zwei, bei 27 Prozent sogar drei Anzeichen dafür vor. Zu den typischen Symptomen gehören Kopfschmerzen, kurzer Bewusstseinsverlust, unsicherer Gang, verlangsamte Reaktionen und das Gefühl, sich "im Nebel" zu befinden.

Obwohl die kanadischen Ärzte die Symptome sogar anhand der Fernsehbilder sehen konnten, wurden nur 15 Prozent der Spieler nach einem Zusammenstoß an der Seitenlinie ärztlich untersucht - und zwar für durchschnittlich 107 Sekunden. 56 Prozent wurden lediglich kurz von Mitspielern, dem Schiedsrichter oder Hilfspersonal in Augenschein genommen - 26 Prozent mussten sich allein wieder aufrappeln. "Sogar von jenen 22 Spielern, die drei Symptome für eine Gehirnerschütterung aufwiesen, kehrten 19 wieder ins Spiel zurück", so die Autoren. "Und zwar im Mittel schon nach 84 Sekunden." Lediglich drei Spieler wurden aus Spiel oder Turnier ausgeschlossen.

"Medizinisch ist es eindeutig: Die Folgen für das Gehirn nach einem Trauma sind gravierender, als es von außen erscheint", sagt Florian Heinen, Experte für die Gehirnentwicklung am Haunerschen Kinderspital der Universität München. "Die Auswirkungen werden häufig noch unterschätzt - es ist biologisch schlimmer. Der Sport reagiert auf Probleme und Kritik aber viel zu langsam." Schließlich steigt unmittelbar nach einer Gehirnerschütterung die Wahrscheinlichkeit für weitere Unfälle, weil Feinabstimmung und Genauigkeit der Bewegungen und Reaktionen darunter leiden.

Langfristig schädigen - auch milde - Kopftraumata das Gehirn, und dadurch verändert sich die Struktur des Denkorgans. "Das vorhandene Wissen über die Gefahren der Kopf-Kollisionen wie auch des Kopfballs wird nicht umgesetzt - aus dem Spiel wird ein Spiel mit der Gesundheit", sagt Heinen. "Ein vernünftiger Test, ob überhaupt weitergespielt werden sollte oder nicht, dauert zehn Minuten - nur husch, husch an der Seitenlinie dem Spieler in die Augen zu schauen, reicht nicht. Hier brauchen wir mehr Professionalität."

© SZ vom 28.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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