Gleichberechtigung:Warum Männer früher sterben

Gleichberechtigung: Frauen haben eine größere Lebensspanne. Sie fühlen sich aber im Schnitt weniger gesund, zeigt eine Studie.

Frauen haben eine größere Lebensspanne. Sie fühlen sich aber im Schnitt weniger gesund, zeigt eine Studie.

(Foto: Sean Gallup/Getty Images; Bearbeitung SZ.de)

Fast überall auf der Welt leben Frauen länger als Männer. Doch die Lücke variiert von Land zu Land - und sagt einiges über den Stand der Gleichberechtigung aus.

Von Christian Endt

Sie verdienen weniger, werden seltener Chef und bilden in fast allen Parlamenten der Welt eine Minderheit: Von Gleichberechtigung sind Frauen weit entfernt. In einem nicht ganz unwichtigen Punkt liegen sie aber weit vor den Männern: bei der Lebenserwartung. Eine Frau, die 2014 geboren wurde, wird im weltweiten Durchschnitt 73,6 Jahre zu leben haben. Ein Mann dagegen nur 69,4 Jahre - fast vier Jahre weniger. So jedenfalls steht es in den Daten der Weltbank.

Aber die Durchschnittswerte erzählen nur einen kleinen Teil der Geschichte. Von Land zu Land gibt es große Unterschiede. In Deutschland haben 2014 geborene Mädchen eine Lebenserwartung von 83,2 Jahren, Jungen können nur mit 78,6 Jahren rechnen - gut viereinhalb Jahre weniger. In Russland sterben Männer mehr als zehn Jahre früher als Frauen, in Schweden nur 3,6 Jahre, und in Mali leben Männer sogar länger als Frauen. Betrachtet man die ganze Welt, wird das Bild unübersichtlich, ein klares Muster ist kaum zu erkennen. Wer sich die Zahlen genauer ansieht, lernt trotzdem eine Menge. Über Männer und Frauen, über das Wechselspiel von Biologie und Gesellschaft und über das Leben in verschiedenen Teilen der Welt.

Die Ärztin Anna Oksuzyan erforscht das Thema seit vielen Jahren, derzeit am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock. "Ein Teil des Unterschieds lässt sich biologisch erklären", sagt sie. So zeigen manche Studien, dass das weibliche Sexualhormon Östrogen vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen schützt - die sind in vielen Ländern die häufigste Todesursache.

Das Immunsystem von Männern verliert mit zunehmendem Alter stärker an Leistungsfähigkeit als das von Frauen, berichteten japanische Wissenschaftler 2013 in der Fachzeitschrift Immunity & Ageing. Manche Forscher vermuten außerdem, das zweite X-Chromosom lasse Frauen länger leben. Schließlich ist im menschlichen Genom jedes Chromosom doppelt vorhanden, was die genetische Vielfalt erhöht und gleichzeitig eine Art Sicherheitskopie mit sich bringt. Diese fehlt Männern allerdings beim X-Chromosom - anders als Frauen haben sie nur eines davon.

Fest steht, dass sich mit der Biologie nur ein Teil des Phänomens erklären lässt. Gesellschaftliche Faktoren spielen ebenso eine große Rolle. Tendenziell pflegen Männer einen riskanteren Lebensstil als Frauen. Sie üben häufiger gefährliche oder ungesunde Berufe aus, man denke an Bergarbeiter oder Soldaten. Und auch ihre Freizeit gestalten Männer risikoreicher als Frauen. Sie rauchen, trinken und gehen abenteuerlichen Hobbys wie Motorradfahren oder Eisklettern nach. Selbstverständlich machen Frauen all das auch - aber im Durchschnitt deutlich seltener.

In den Daten stößt Oksuzyan immer wieder auf ein Paradoxon: "Frauen leben zwar im Durchschnitt länger als Männer", sagt sie. "Nach einer ganzen Reihe von Indikatoren ist ihr Gesundheitszustand aber schlechter." Vergleichstests in verschiedenen Ländern und mit verschiedenen Altersgruppen zeigen, dass Frauen statistisch betrachtet eine schlechtere körperliche Fitness haben, häufiger an Behinderungen, Depressionen oder Migräne leiden und sich selbst als weniger gesund einschätzen als gleichaltrige Männer. Allerdings sind solche Beeinträchtigungen selten direkt lebensbedrohlich. Anders als etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bei denen die Männer im Nachteil sind.

Hinzu kommt, dass Frauen sich mehr um ihre Gesundheit bemühen: Sie ernähren sich gesünder und gehen häufiger zum Arzt als Männer. Letztere holen sich oft erst dann medizinischen Rat, wenn sie es nicht mehr anders aushalten, und eine Krankheit schon weit fortgeschritten ist. Manchmal ist es dann zu spät, was zur erhöhten Sterblichkeit unter Männern beiträgt.

Oksuzyan und andere Forscher haben eine Reihe von Vergleichsstudien durchgeführt, um die Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern zu ergründen. Sie hoffen, so auch die biologische von der gesellschaftlichen Komponente trennen zu können. Wer eine Erklärung für den Geschlechtsunterschied finden will, muss sich jedoch Land für Land ansehen.

Geburten sind ein Risiko für viele Frauen

Afrika

Am geringsten unterscheidet sich die Lebenserwartung zwischen Männern und Frauen in den armen Ländern Afrikas. Im Sudan leben Frauen nur drei Jahre länger als Männer, in Nigeria sogar nur 0,7 Jahre. "Das liegt daran, dass die Menschen in Afrika häufig aus ganz anderen Gründen sterben als etwa in Europa", sagt Oksuzyan. Im Westen beenden Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen das Leben der meisten Menschen, wobei Männer vor allem fürLetzteres besonders anfällig sind. Dagegen sind in den meisten afrikanischen Staaten Infektionskrankheiten die häufigste Todesursache. Die treffen Frauen und Männer gleichermaßen. "Wo Infektionskrankheiten weitverbreitet sind, schrumpft der Gender Gap in der Lebenserwartung", sagt Oksuzyan. Eine Rolle spielt auch, dass Frauen in vielen afrikanischen Staaten sehr viele Kinder bekommen und Mütter vergleichsweise häufig bei der Geburt sterben. In zwei afrikanischen Staaten ist das Verhältnis sogar umgedreht: Dort sterben Frauen durchschnittlich früher als Männer. In Mali beispielsweise ein knappes halbes Jahr. Im kleinen Swasiland, das zwischen Südafrika und Mosambik liegt, beträgt der Unterschied 1,4 Jahre.

Südamerika

Mit dem Sprung vom Entwicklungs- zum Schwellenland wächst der Abstand in der Lebenserwartung meist stark an. Das zeigt sich besonders in Südamerika: In allen Staaten dort liegt der Unterschied über dem weltweiten Durchschnitt. In Brasilien und Argentinien leben Frauen gut siebeneinhalb Jahre länger als Männer; in Peru, Bolivien und Costa Rica sind es jeweils um die fünf Jahre. "Mit zunehmender Entwicklung verschieben sich die Todesursachen von Infektionen in Richtung Herz-Kreislauf-Erkrankungen", sagt Oksuzyan. Davon sind Männer stärker betroffen als Frauen. Außerdem haben Schwellenländer eine niedrigere Geburtenrate und ein besseres Gesundheitswesen, so dass Mütter seltener bei der Entbindung sterben.

Ehemalige Sowjetunion

Ein Mädchen, das 2014 in Russland geboren wurde, hat laut Weltbank Aussicht auf 76 Lebensjahre, im gleichen Jahr zur Welt gekommene männliche Babys können dagegen nur mit 65 Jahren rechnen. In Litauen und Weißrussland ist der Unterschied sogar noch etwas größer. Fast nirgendwo auf der Welt liegen die Lebenserwartungen der Geschlechter so weit auseinander wie in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Dass Männer häufiger rauchen und mehr Alkohol trinken als Frauen, dürfte überall auf der Welt gelten. In Russland sind diese beiden Laster allerdings besonders weitverbreitet. Die Neigung vor allem russischer Männer zu Wodka und Zigaretten gilt unter Wissenschaftlern als Hauptgrund dafür, dass sie im Durchschnitt ein ganzes Jahrzehnt vor ihren Frauen sterben. Außerdem deuten Studien darauf hin, dass Frauen den Zusammenbruch der Sowjetunion psychisch besser verkraftet haben. Das könnte an den traditionellen Geschlechterrollen liegen: Für Hausfrauen hat sich mit dem Systemwechsel weniger verändert als für berufstätige Männer, deren Arbeitswelt plötzlich vollkommen anders aussah.

Europa

Während der Abstand in der Lebenserwartung beim Schritt vom Entwicklungs- zum Schwellenland wächst, geht es beim Aufstieg vom Schwellen- zum Industrieland in die andere Richtung: Die Lücke schrumpft wieder. Würde man alle Länder der Erde nach ihrem Wohlstand sortieren, erhielte man für den Geschlechterunterschied in der Lebenserwartung eine Kurve, die an die Form eines umgedrehten U erinnert, wenn auch mit vielen Ausreißern. Im EU-Durchschnitt leben Frauen fünfeinhalb Jahre länger als Männer. Aber selbst innerhalb des vergleichsweise kleinen Europa sieht es in jedem Land anders aus. In Portugal beträgt der Unterschied zwischen Frauen und Männern 6,4 Jahre, fast zwei Jahre mehr als in Deutschland. In Schweden sind es nur 3,6 Jahre. "In skandinavischen Ländern ist die Gleichberechtigung ziemlich ausgeprägt", sagt Oksuzyan. "In Südeuropa gibt es traditionellere Geschlechterrollen. Das spielt eine große Rolle."

Insgesamt aber schrumpft die Lücke zwischen Männern und Frauen in der EU seit Anfang der 1990er-Jahre immer weiter. "Tendenziell werden die Unterschiede weiter abnehmen", sagt Anna Oksuzyan. "Sie werden aber nicht ganz verschwinden, weil ein Teil davon biologisch erklärt werden kann. Es wird interessant zu sehen, wie groß dieser Anteil ist."

"Wie viel Gleichberechtigung brauchen wir noch?" Diese Frage hat unsere Leser in der achten Runde unseres Projekts Die Recherche am meisten interessiert. Das folgende Dossier soll sie beantworten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: