Arzneimittel:Millionengeschäft mit Pseudo-Studien: Wie Pharmafirmen Ärzte beeinflussen

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Wirkt ein Medikament? Vertragen es die Patienten? Diese Fragen nutzen Pharmafirmen für ein fragwürdiges Anreiz-System.

Von Christina Berndt, Markus Grill, Stefan Wehrmeyer

Mögliche Retter gibt es meist mehrere. Manchmal sind es zwei Medikamente, aus denen Wolf-Dieter Ludwig wählen kann, wenn er seine Krebspatienten behandelt. Manchmal sind es auch fünf. Soll er Avastin nehmen? Zaltrap? Oder doch Erbitux? Und von älteren Präparaten wie 5-FU lieber das von Firma A oder B? Welche Arznei der Krebsarzt, der Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) ist, welchem seiner Patienten verabreicht, wägt er sorgfältig ab - in Tumorkonferenzen mit anderen Ärzten am Helios-Klinikum Berlin-Buch. Dabei spielen viele Faktoren eine Rolle: Was für einen Tumor hat der Patient genau? Wie alt ist er? Und welche Mittel hat er früher schon bekommen?

Absolut keine Rolle darf spielen, ob sich das Medikament auch für die Ärzte finanziell lohnt. Darauf können sich Patienten anderswo nicht immer verlassen. Oft kassieren Ärzte, wenn sie ein bestimmtes Medikament verschreiben. Von "legalisierter Korruption" hat Transparency International schon vor Jahren gesprochen. Etwas vorsichtiger spricht Bernd Mühlbauer, Pharmakologe am Klinikum Bremen Mitte und ebenfalls AkdÄ-Vorstand, von "fast schon Bestechung".

Denn die Vorteile für die Ärzte sind geschickt getarnt: Die Mediziner erhalten Geld dafür, dass sie an Pseudo-Studien teilnehmen, "Anwendungsbeobachtungen" (AWB) oder "Nicht-interventionelle Studien" genannt. Die Patienten ahnen nichts davon. Aber dem Arzt kann die Entscheidung, Medikament A statt B zu verordnen, im Laufe der Zeit Hunderte oder auch Tausende Euro pro Patient einbringen.

Mehr als 100 Millionen Euro haben Pharmafirmen an Deutschlands Ärzte bezahlt

In welchem Ausmaß Firmen mit Hilfe von AWB Einfluss auf Ärzte nehmen, zeigen jetzt gemeinsame Recherchen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung in Zusammenarbeit mit der durch Stiftungsmittel finanzierten Redaktion Correctiv. Sie hat sich mit Hilfe des Presserechts den Zugang zu allen AWB-Meldungen der Jahre 2009 bis 2014 erstritten: 31,5 Kilogramm Akten.

Mehr als 100 Millionen Euro haben Pharmafirmen demnach jedes Jahr an Deutschlands Ärzte bezahlt, damit diese beobachten, wie sich ihre Medikamente in der Praxis machen. Das Geld zahlt letztlich die Versichertengemeinschaft. Allein im Jahr 2014 nahmen 17 000 Ärzte an AWB teil - unter ihnen nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung 12 000 niedergelassene Mediziner, was jedem zehnten Praxis-Arzt entspricht. Mehr als 1300 AWB kamen so zusammen, mit 1,7 Millionen Patienten. Und die Zahlen bilden nur die Untergrenze ab, denn es werden längst nicht alle AWB gemeldet. Ob das eigene Medikament betroffen ist, können Patienten auf correctiv.org nachlesen. Ob der eigene Arzt mitmacht, steht dort indes nicht. Bislang müssen Firmen in Deutschland - anders als in den USA - die Namen der Ärzte, die Zuwendungen erhalten, nicht preisgeben.

Womöglich bekommen Patienten Präparate verabreicht, weil ihr Arzt daran verdient

Entsprechend gering ist die Hemmschwelle für Ärzte - zumal der Aufwand meist sehr überschaubar ist: Ein Doktor, der an einer AWB teilnimmt, muss in der Regel nur das entsprechende Mittel verordnen, ein paar Formulare ausfüllen und den Patienten fragen, wie ihm die Behandlung bekommt. "Die Information ist die, die ohnehin im Rahmen der Behandlung dokumentiert werden muss", sagt SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Noch dazu seien mehr die Arzthelferinnen gefordert als die Ärzte.

Der Zweck der AWB steht für Lauterbach fest: "Es ist ganz klar das Ziel der Pharmaindustrie, so Patienten zu rekrutieren." Wenn ein Arzt zwei Arzneien zur Wahl habe, entscheide er sich eher für das, bei dem ein Zusatzeinkommen winke. Das Einkommen sei nicht das Problem, so Lauterbach. Aber womöglich bekommt der Patient nicht das Medikament, "das eigentlich besser für ihn wäre, sondern das, an dem der Arzt besser verdient". Auch der Krebsspezialist Wolf-Dieter Ludwig sieht die Gefahr, dass Ärzte wegen des finanziellen Anreizes teurere oder gar schlechtere oder riskantere Mittel verschreiben und somit das Budget der Krankenkassen belasten oder die Gesundheit der Patienten gefährden: "Ich vermute, dass man mit Hilfe der Anwendungsbeobachtungen Ärzte auf einzelne Hersteller einschießen will", sagt er.

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Mit Geld verquickt wird auf diese Art die Behandlung aller wesentlichen Krankheiten. Bluthochdruck ebenso wie Allergien, Blutarmut, Rheuma und selbst so existenzielle Krankheiten wie Krebs. Besonders stark vertreten sind in den AWB teure Medikamente, die oft nicht besser wirken als billigere Pendants, oder solche Präparate, die einem harten Konkurrenzkampf unterliegen - wie das einst von Augenärzten als "unerhört hochpreisig" bezeichnete Mittel Lucentis des Pharmariesen Novartis gegen die Augenkrankheit Makuladegeneration, das neuerdings mit Eylea von Bayer einen (etwas billigeren) Konkurrenten hat. Zu beiden Präparaten gibt es mehrere AWB.

Gleich zehn AWB hat der Pharmakonzern Roche zu seinem Krebsmittel Avastin begonnen, das sich neuerdings zunehmender Konkurrenz erwehren muss. Daran teilnehmende Ärzte können bis zu 1260 Euro pro Patient verdienen. Das ist verlockend: Laut dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) bekommen Onkologen für die Behandlung eines Krebspatienten 185 Euro im Quartal, Hausärzte sogar nur 60 Euro.

"Die Honorare stehen in keinem Verhältnis zum Aufwand und sind gefährlich hoch", sagt Karl Lauterbach. "Zum Teil wird für die Verwendung und die Auswahl des Medikaments und die Dokumentation in Form eines flüchtig ausgefüllten Bogens mehr bezahlt als für die gesamte Behandlung. Das sind unhaltbare Anreize."

Die Pharmaunternehmen widersprechen. Es gehe nicht um Marketing, betonen sie im Einklang. Die AWB seien im Sinne der Patienten, weil damit Wirksamkeit und Nebenwirkungen einzelner Medikamente auch nach der Zulassung überwacht werden könnten. "Die Entwicklung eines Arzneimittels ist nach der Zulassung nicht abgeschlossen", schreibt zum Beispiel Novartis. Es gelte, "weitere Informationen zu Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit unter Alltagsbedingungen zu sammeln". Auch Roche betont, Ziel der Aktion sei es nicht, dass Ärzte das eigene Medikament bevorzugen. Vielmehr gehe es darum, "weitere Erkenntnisse zur Wirksamkeit und Sicherheit unter Praxisbedingungen zu generieren".

Tatsächlich wurden AWB früher im Einzelfall von Behörden angeordnet, um Nebenwirkungen genauer zu erfassen oder die Wirksamkeit noch besser zu untersuchen. Seit dem Jahr 2012 aber heißen solche Langzeitbeobachtungen nicht mehr AWB, sondern PASS- oder PAES-Studien (für "Post-Authorisation Safety Study" oder "Post Authorisation Efficacy Study"). Derzeit gibt es solche Erhebungen zum Beispiel für moderne Antibabypillen, die wegen ihres erhöhten Thromboserisikos in Verruf geraten sind, oder für einzelne Medikamente gegen Multiple Sklerose, die zwar hochwirksam sind, aber in seltenen Einzelfällen Patienten das Leben kosten können.

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Der Erkenntnisgewinn der sonstigen AWB ist damit jedenfalls, sofern er überhaupt dokumentiert wird, minimal: "Es ist quasi eine unkontrollierte Sammlung von Daten", sagt der Pharmakologe Mühlbauer. "Ich halte Anwendungsbeobachtungen für eine große Katastrophe, für Verschreibungsförderung ohne wissenschaftliche Aussagekraft." Schließlich erfüllen AWB nicht einmal Minimalanforderungen an Studien, schon allein, weil es keine Kontrollgruppen gibt. Deshalb taugen sie, vom erkenntnistheoretischen Wert, allenfalls dafür, Nebenwirkungen zu erfassen. Doch diese müssen Ärzte ohnehin an die Arzneimittelkommission oder das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm) melden. Und zwar, ohne dass sie Geld dafür bekommen.

Besonders fragwürdig wirken vor diesem Hintergrund AWB zu Medikamenten-Klassikern wie dem Krebsmittel Paclitaxel, die seit Jahrzehnten weltweit millionenfach verschrieben wurden. "20 Jahre nach der Zulassung erhält man mit 500 Patienten keine neuen systematischen Erkenntnisse über Risiken und Nebenwirkungen", sagt Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Er nennt AWB "vollkommen überflüssig: Das Geld sollte man für ordentliche Studien einsetzen".

Die Bundesregierung arbeitet an einem neuen Antikorruptionsgesetz

Eigentlich sollte den AWB ohnehin längst Einhalt geboten sein. Nachdem mehrere Ärzte wegen AWB ins Visier der Staatsanwaltschaft gerieten und Pharmakonzerne gerügt worden waren, wurde im Jahr 2013 im Arzneimittelgesetz eine Anzeigepflicht für derlei Pseudo-Studien eingeführt. Dies ist auch die Grundlage der jetzt ausgewerteten Datenbank: Firmen müssen ihre AWB an das Bfarm oder das Paul-Ehrlich-Institut sowie an die KBV und den GKV-Spitzenverband melden. Doch die Behörden sammeln die Daten nur. Sie werten sie nicht aus und müssen die AWB auch nicht genehmigen. "Die Verantwortung für Inhalt und Methodik liegt beim Durchführenden", heißt es aus dem Bfarm.

Derzeit arbeitet die Bundesregierung an einem neuen Antikorruptionsgesetz für Deutschlands Mediziner. Demnach können Ärzte künftig leichter unter Korruptionsverdacht geraten, wenn sie sich für eine AWB hergeben und dafür auffallend viel Geld kassieren. Doch das neue Gesetz bietet weiterhin Schlupflöcher, denn im Entwurf heißt es, die Entschädigungen seien "nach ihrer Art und Höhe so zu bemessen, dass kein Anreiz für eine bevorzugte Verschreibung oder Empfehlung bestimmter Arzneimittel entsteht".

Aber wer kann schon sagen, was ein Anreiz ist und was nicht? Schon heute haben manche AWB sogar eine Ethikkommission durchlaufen. Aber auch die kapituliert: "In der Praxis lässt sich bei der Studiendurchführung nicht immer ausschließen, dass das Verschreibungsverhalten doch beeinflusst wird", sagt Ignaz Wessler von der Ethikkommission der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz.

Die Recherche erfolgte in Zusammenarbeit mit der gemeinnützigen Redaktion Correctiv.org.

© SZ vom 10.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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