Abhängigkeitserkrankungen:"Gegen Sucht ist niemand immun"

Alkohol und andere Drogen kapern das Lustzentrum des Gehirns und werden so bedeutsam wie Sex. Doch warum geht das bei manchen viel schneller als bei anderen? Und kann man wirklich schon beim ersten Kontakt abhängig werden? Suchtforscher Jens Reimer über das Potenzial von Drogen.

Von Karin Janker

Jens Reimer ist Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg.

Süddeutsche.de: Herr Reimer, was entscheidet darüber, ob jemand abhängig wird?

Jens Reimer: Das Risiko, abhängig zu werden, hängt von einer Reihe von Faktoren ab. Neben der Stabilität von Persönlichkeit und Psyche entscheiden auch die Gene und die Gesellschaft darüber, ob ein Mensch abhängig wird. Im Fall der Alkoholabhängigkeit haben genetische Faktoren einen Anteil von 50 bis 60 Prozent.

Inwiefern hat die Gesellschaft Einfluss darauf, ob ein Mensch abhängig wird?

Ich meine damit vor allem das persönliche Umfeld des Betroffenen, seine soziale Eingebundenheit. Aber auch Dinge wie die soziale Akzeptanz der Droge und ihre Verfügbarkeit. Nicht umsonst ist Tabakabhängigkeit in unserer Gesellschaft die verbreitetste Sucht, während Heroinabhängigkeit zu den seltensten Süchten gehört. Hier setzt die Illegalität eine erste Hürde, eine zweite Barriere setzt die Nadel, mit der man hantieren muss.

Wie weit hängt das Suchtpotenzial auch von der Substanz selbst ab?

Die Substanz spielt natürlich auch eine entscheidende Rolle. Tabak beispielsweise macht schnell abhängig, weil seine psychoaktive Wirkung quasi direkt mit der Inhalation im Gehirn einsetzt. Der Konsument erhält also sofort die "Belohnung".

Was genau versteht man unter Abhängigkeit?

Zu den Kriterien des Abhängigkeitssyndroms gehören der Zwang, die Droge zu konsumieren, und eine verminderte Kontrolle über den eigenen Konsum, also über Häufigkeit und Menge. Hinzu kommen Entzugserscheinungen, wenn man die Droge weglässt. Die zunehmende Toleranz gegenüber der Substanz ist ein weiteres wichtiges Kriterium. Das heißt, dass man mit der Zeit eine höhere Dosis braucht, um die gleiche Wirkung zu erzielen. Mit der Dosis steigt auch das Risiko, abhängig zu werden.

Vom veränderten Gehirn

Wie lange dauert es, bis sich eine Abhängigkeit entwickelt? Kann jemand schon nach der ersten Dosis abhängig werden?

Dass jemand nach dem ersten Konsum bereits abhängig ist, ist unwahrscheinlich. Sonst müssten ja alle, die einmal unter Narkose operiert wurden, eine Opiat-Abhängigkeit entwickeln. Man wird nicht mit einer Sucht infiziert. Abhängigkeit entwickelt sich über einen längeren Zeitraum: Man macht eine positive Erfahrung mit der Droge und will diese wiederholen. Das schaukelt sich dann auf, bis man die Droge immer häufiger konsumiert. Dann stellt sich das Gehirn nach und nach auf die Zufuhr der Substanz ein. Bei Alkohol dauert es in etwa zehn Jahre bis sich eine massive Abhängigkeit ausbildet, bei Tabak, Heroin und Amphetaminen kann das sehr viel schneller gehen.

Gibt es Menschen, die Drogen konsumieren und davon nicht abhängig werden, die also gewissermaßen 'immun' sind gegen Sucht?

Von einer Immunität kann man in diesem Zusammenhang nicht sprechen. Gegen Sucht ist niemand 'immun', weil Abhängigkeit ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren ist. Es kann sein, dass jemand, bei dem die Parameter Umfeld, Persönlichkeitsentwicklung und Gene stabil sind, nicht abhängig wird. Aber wenn sich nur einer der Parameter verändert, also beispielsweise die Beziehung zerbricht oder der Job verloren geht, kann die Situation schnell kippen und eine Abhängigkeit entstehen.

Was genau passiert im Gehirn bei einem Menschen, der abhängig ist?

Die Gewöhnung findet vor allem im Gehirn statt. Dort verändern sich die Abläufe im Transmittersystem. Das Gehirn passt sich dem Konsumverhalten an. Nehmen wir als Beispiel Alkohol: Alkohol hat eine beruhigende, verlangsamende Wirkung. Langsame Reaktionen aber können gefährlich sein. Bei längerem Konsum versucht das Gehirn daher, diesem Effekt entgegenzuwirken und schaltet verstärkt auf Aktivität um. Wird der Alkohol und damit die Sedierung plötzlich weggelassen, neigt sich die Waage stark in Richtung Aktivität, es kann zu überschießenden Reaktionen wie Zittern und Krampfanfällen kommen. Die Entzugserscheinungen sind also der Wirkung der Droge entgegengesetzt.

Warum ist es so schwer, wieder loszukommen?

Drogen funktionieren nach dem Prinzip 'sex sells': Sie überschreiben sozusagen das limbische System in unserem Gehirn. Dieses System steuert unsere Lust und sorgt so dafür, dass wir Sex haben, uns fortpflanzen und Nahrung zu uns nehmen. Wenn dieses System von der Droge überschrieben wird, kommt ihr im Gehirn des Betroffenen eine ähnliche Bedeutung zu wie Fortpflanzung und Nahrungsaufnahme. Das ist der Grund, warum man nicht einfach wieder aufhören kann.

Dennoch gibt es erfolgreiche Therapien. Wie laufen Entzug und Entwöhnung ab?

Normalerweise beginnt die Behandlung mit dem körperlichen Entzug: Die Substanz wird weggelassen, der Körper entgiftet. Danach folgt die Phase der Entwöhnung, die als Reha-Maßnahme dazu dienen soll, langfristig ohne die Droge auszukommen. Oberstes Therapieziel ist es dabei stets, das Überleben des Betroffenen zu sichern. Entscheidend für den Behandlungserfolg ist unter anderem der Zeitpunkt, an dem die Therapie beginnt, also die Zeitspanne, die der Betroffene bereits abhängig ist. Je früher die Behandlung einsetzt, umso größer sind die Chancen vom Suchtstoff loszukommen.

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