Einzelhandel:Der Supermarkt weiß, was Sie essen dürfen

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Die Digitalisierung macht auch vor dem stationären Handel nicht halt. (Foto: Collage: Claudia Klein)

Keine Kassen, dafür kennt die Software den individuellen Diätplan: Nach den Internethändlern rüsten auch stationäre Händler mit "smarter" Technik auf. Besuch in einem Schweizer Markt der Zukunft.

Von Charlotte Theile, Regensdorf

Pascal Hagedorn ist seiner Zeit voraus, das könnte man zumindest sagen, wenn man freundlich sein will. Was man auch sagen könnte: Pascal Hagedorn, der in einem kleinen Ort bei Zürich das Co-Innovation Lab des Softwareherstellers SAP leitet, spricht so schnell, dass man kaum hinterherkommt. Der kleine Raum, in dem er arbeitet, sieht unspektakulär aus: viel Glas, ein Regal mit Plastikobst,die Nachbildung eines Kiosks. Doch gemütlich ist hier gar nichts. Im Gegenteil.

Die Zeit drängt. Nicht nur der deutsche Softwarehersteller SAP, der eigentlich für Informatiklösungen zwischen Unternehmen bekannt ist, forscht an Ideen, die das Einkaufen im Supermarkt revolutionieren sollen. Überall auf der Welt versuchen Unternehmen und Wissenschaftler das Erfolgsmodell aus dem Internet zu kopieren. Dort funktioniert Shopping heute schließlich nach ziemlich intelligenten Prinzipien.

Wer einmal die Preise von Waschmaschinen verglichen hat, bekommt in den Tagen und Wochen darauf immer wieder Sonderangebote seiner Lieblingshersteller vorgelegt, wer sich ein Paar Turnschuhe kauft, wäre dumm, wenn er nicht noch die reduzierten, perfekt darauf abgestimmten Socken in den Einkaufswagen legt - und überhaupt: Je länger man bei einem Online-Warenhaus Kunde ist, desto häufiger passiert es einem, dass man das, was einem die Werbebanner präsentieren, tatsächlich sofort haben möchte.

Software kann vorfiltern, was in den jeweiligen Diätplan passt

Doch dort, wo man am meisten einkauft, sind die Dinge meist noch so, wie sie immer waren. Im Supermarkt schlängelt man sich durch vollgestopfte Regalreihen, sieht Werbung für Müsli, auf das man allergisch reagiert, findet sich in einem Paralleluniversum voller Katzenfutter wieder und verlässt den Laden schließlich ohne das Produkt, das man eigentlich kaufen wollte, weil die Suche zu lange gedauert hat. Hagedorn ist überzeugt: Das könnte man alles viel besser, viel "dynamischer" organisieren.

Die Informationen, die die Warenhäuser im Netz schon bei dem ersten Besuch von uns als Kunden haben? Einige davon könnten die Supermärkte auch nutzen, wenn sie nur wollten. Eine Kamera am Eingang erkennt, wer da gerade hereinkommt. Mann, Frau? Jung, alt?

Intelligentes Regal

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Wenn Etiketten die Informationen über das Produkt gleich mitsenden, kann das Regal sie scannen und den Preis entsprechend ausschreiben. Je intelligenter das System ist, desto mehr Informationen können einfließen - kurz vor Ablauf der Haltbarkeit könnte das Produkt dann zum Beispiel selbständig im Preis reduziert werden. Auch dynamisches Pricing könnte mit diesen Systemen ganz automatisch Realität werden: Nach neun Uhr morgens, wenn die Schnäppchenjäger schon wieder zu Hause sind, könnten die Preise steigen. Kurz vor Feierabend könnten frische Produkte, die sonst weggeworfen werden müssten, nochmals deutlich billiger werden. Oder andersrum: Wenn klar wird, dass man bald ausverkauft sein wird, können die letzten drei Exemplare ruhig etwas teurer sein. Ein weiterer Vorteil: Wenn ein Produkt in ein anderes Regal wandert, müsste niemand mehr umetikettieren.

Kameras

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Das System ist von Flughäfen und Hochsicherheitskontrollen bekannt: Überwachungskameras sind in der Lage, Dutzende Informationen aus einer kurzen Aufnahme herauszulesen. Geschlecht, Alter, aber auch Gemütszustände, selbst unwillkürliche Signale, die man vielleicht nicht einmal bemerkt hat, die einem geübten Beobachter (beziehungsweise einer intelligenten Software) aber klarmachen: Ja, hier spielt jemand mit dem Gedanken, sich die Kartoffelchips anzuschauen. Ergo: Jetzt wäre der Moment, eine Werbung auf dem personalisierten Display zu platzieren, Sonderangebot bei den Paprika-Chips. Eine weitere Funktion der Kameras hat eher quantitativen Wert: Wenn man die Verkaufsfläche überwacht und auswertet, kann man messen, vor welchen Regalen sich die Kunden besonders lang aufhalten und welche Werbung tatsächlich angeschaut wird.

Allergie-Scanner

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Eins der Produkte, auf die Pascal Hagedorn stolz ist, ist die Augmented-Reality-Brille fürs Supermarktregal. Einmal durchschauen, und schon hat jedes Produkt ein rotes X oder einen grünen Haken, je nachdem ob es in den Ernährungsplan des Kunden passt. Ein vielversprechender Markt. Schließlich verzichten heute viele auf bestimmte Produkte, ernähren sich vegan, laktose- oder glutenfrei. Für die Hersteller aber birgt die Anwendung gewaltige Risiken. Was, wenn die Software spinnt und einem Erdnussallergiker ein falsches Produkt in den Korb gelegt wird? "Es muss sichergestellt sein, dass die Daten auf den Produkten korrekt vermerkt sind und somit von der Technik zuverlässig zugeordnet werden können" sagt Hagedorn. Noch sieht er die Anwendung "nicht als entsprechend alltagstauglich". In weniger kritischen Szenarien könne sie aber problemlos eingesetzt werden.

Schlaue Etiketten

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Nicht nur im Supermarkt, auch bei anderen Händlern können die Etiketten weit mehr als nur den Preis auszeichnen. Sie kommunzieren. Wer zum Beispiel Kleidung zum Anprobieren in die Umkleidekabine mitnimmt, könnte dort in einigen Jahren auf einen intelligenten Spiegel treffen, der die Kleidungsstücke erkennt und sich per Berührung steuern lässt. Wenn ein Kleidungsstück nicht passt, kann es hier gleich in einer anderen Größe geordert werden. Und natürlich soll auch der intelligente Spiegel zum Geldausgeben animieren, etwa in dem er eine passende Handtasche zu Schuhen bewirbt oder, wenn etwas nicht gefällt, Ersatzvorschläge macht. Schon heute gibt es Etiketten, die zahlreiche Informationen senden: So kann man zum Beispiel online einsehen, ob ein bestimmtes Produkt in einem Shop noch erhältlich ist oder ob es bereits verkauft wurde.

Algorithmen

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Es klingt ein bisschen wie ein Horrorszenario. Stellen Sie sich vor, Sie laufen gerade in Richtung Kasse, rechts fünf Meter Katzenfutter, links sieben Meter Weichspüler, Sie sind fast da. Auf einmal leuchtet auf dem Bildschirm vor der Kasse Werbung für Schokopudding auf - und zwar für Ihren Lieblingsschokopudding, den Sie heute nicht gekauft haben und der gerade im Angebot ist. Personalisierte Werbung, die sowohl langfristige Präferenzen als auch die aktuellen Einkäufe des Kunden kennt und daraus maßgeschneiderte Werbung formt. Für Software-Spezialisten und Werber ist das ein wahr gewordener Traum, für viele Kunden ist es eine eher unangenehme Vorstellung. Soll man jetzt umkehren, weil der Algorithmus es so befiehlt? Kauft man stattdessen eine Dose Thunfisch, der nicht für den menschlichen Verzehr geeignet ist, um das System zu verwirren? Sind das die Fragen der Zukunft?

Hagedorn kann sich die nächste Frage denken. "Natürlich machen sich Kunden zu Recht Gedanken um Datenschutz, das ist uns und den Einzelhändlern bewusst und wird berücksichtigt." Denn diese Kamera könnte ja noch mehr relevante Informationen verraten: Ist der Kunde in Eile? Hat er Hunger? Trägt er eine teure Uhr? Sensible Daten, mit denen die Märkte viel anfangen könnten. Bei Hagedorn im Büro reagieren die Werbedisplays auf den Kunden, der gerade vor ihm steht.

Wenn er, wie in Seattle in der Zukunftsfiliale von Amazon Go geplant, alle Einkäufe mit dem Smartphone bezahlt, kann der Händler noch viel mehr. Nach wenigen Einkäufen hat er ein persönliches Profil vom Kunden. Er weiß dann nicht nur, dass dieser zum Beispiel weiblich und um die fünfzig ist, sondern auch, dass sie am Freitagabend stets Rotwein einkauft - und dass es ziemlich erfolgversprechend ist, ihr jetzt ein Sonderangebot für grünen Salat oder Mozzarella vorzulegen.

In den Supermärkten der Zukunft sind die Etiketten kleine Sender, der Korb ist smart und registriert, was er so durch den Laden trägt, die Werbung wird entsprechend darauf abgestimmt. Wer Nudeln in den Korb legt, bekommt Pesto angeboten, im Internet ist das längst Alltag.

Spannend wird die smarte Einkaufswelt auch für die wachsende Gruppe der Kunden, die bestimmte Nahrungsmittel nicht essen kann oder will. Die Software kann für sie vorfiltern, was überhaupt in ihren Diätplan passt - so erspart man sich das langwierige Lesen der Zutatenliste.

Ob bei Amazon Go oder im "Future Retail Center" in Regensdorf bei Zürich: Kassen braucht es keine mehr. Man geht einfach hinaus, Smartphone und Einkaufskorb rechnen ab. Ein Vorteil, den Kunden mit Mitgliedskarte kennen: Man hat ein Archiv seiner Einkäufe, kann ohne Umstände nachschauen, wie dieser Wein hieß, den man vor drei Monaten gekauft hat. Ein Feature, das bei den Kunden eher unbeliebt ist, nennt sich dynamische Preisgestaltung. Gerade in der Schweiz, wo viele bereit sind, hohe Preise zu bezahlen, wenn das Produkt es wert ist, hat es im Frühjahr Diskussionen ausgelöst. Im smarten Supermarkt ist es möglich, die Preise anzupassen - je nach Tageszeit, Wetter, Nachfrage. Theoretisch könnte man auch auf das Profil des Kunden reagieren. "Das wird von vielen als unseriös empfunden und hätte sehr wahrscheinlich keine Akzeptanz", sagt Hagedorn.

Die grundsätzliche Frage aber bleibt immer die gleiche: Sind die Kunden bereit, für mehr Komfort ihre Daten und Gewohnheiten offenzulegen? Die Erfahrung aus dem Netz ist eindeutig: Beim Abwägen von Datenschutz und Bequemlichkeit gewinnt fast immer der Komfort.

© SZ vom 20.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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