Wissenschaft:Geschichte einer Rufschädigung

Wissenschaft: Britta Nestler, 45, ist Professorin für Mikrostruktursimulation in der Werkstofftechnik am Karlsruher Institut für Technologie und an der Hochschule Karlsruhe

Britta Nestler, 45, ist Professorin für Mikrostruktursimulation in der Werkstofftechnik am Karlsruher Institut für Technologie und an der Hochschule Karlsruhe

(Foto: David Ausserhofer)
  • Britta Nestler, Professorin für Mikrostruktursimulation in der Werkstofftechnik, sollte für herausragende wissenschaftliche Leistungen mit dem Leibniz-Preis geehrt werden.
  • Kurz vor der Ehrung bezichtigt sie jedoch ein anonymer Whistleblower des wissenschaftlichen Fehlverhaltens.
  • Die Auszeichnung bekommt sie schließlich doch, wenn auch verspätet. Es bleibt aber die Frage, wie der Wissenschaftbetrieb mit derlei Anschuldigungen umgehen soll.

Von Jan-Martin Wiarda

Will man Britta Nestler gerecht werden, muss man ihre Geschichte vom Ende her erzählen. Am Ende steht sie im Festsaal der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina neben der Bundesforschungsministerin und erhält Standing Ovations. Für ihre herausragenden wissenschaftlichen Leistungen. Für den Leibniz-Preis, den sie soeben erhalten hat, die höchste Auszeichnung, die Deutschlands Wissenschaft zu vergeben hat.

Doch der Preis kam verspätet. Weil eine Person, deren Namen Nestler nicht kennt, Vorwürfe gegen sie erhoben hatte, die sich als falsch erwiesen. Aus Missgunst? Ihr Fall wirft erneut die Frage auf, wie die Wissenschaft mit anonymen Whistleblowern umgehen muss, die Unrecht aufdecken, aber eben auch Unrecht tun können.

Für Nestler beginnt die Geschichte am 14. März, kurz vor ihrer Abreise nach Berlin. Dort soll die Materialforscherin am Tag darauf den Leibniz-Preis erhalten, doch dann ruft Dorothee Dzwonnek, die Generalsekretärin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), an: Es seien Vorwürfe aufgetaucht. Nestler hört den Ausdruck "wissenschaftliches Fehlverhalten" - das kann eine Fälschung bedeuten, ein Plagiat, Ideendiebstahl oder die Sabotage der Forschung anderer. Sie denkt: "Das gibt es nicht, das kann nicht sein."

Für Dzwonnek begann die Geschichte zwei Tage vorher, an einem Sonntagabend. Zurück von einer Delegationsreise aus Japan, erfährt sie von einem dicken Schriftstück ohne Absender, das am Freitag in der DFG-Geschäftsstelle eingegangen ist. Dzwonnek sitzt dem DFG-Ausschuss "zur Untersuchung von Vorwürfen wissenschaftlichen Fehlverhaltens" vor, und irgendwann, erzählt sie, habe sie selbst ein Verdacht beschlichen: Da gibt sich jemand als Whistleblower aus, um sich zu rächen. "Das war ein ungutes Gefühl. Man ahnt etwas und kann doch nichts tun."

Denn die Vorwürfe seien hinreichend konkret und sachlich vorgetragen gewesen, wie eine erste Detailprüfung durch DFG-Juristen am Montag darauf ergeben habe. "Noch dazu waren sie versehen mit konkretem Hintergrundwissen über Abläufe und Verfahren an Nestlers Institut, um eine Untersuchung gemäß unseren Senatsrichtlinien zwingend zu machen."

Am Dienstag dann der Anruf bei Nestler, gefolgt von einer stundenlangen Telefonkonferenz, in der die Beschuldigte aus dem Stand ihre Unschuld belegen soll. "Das war für mich ... schwer zu ertragen", sagt Nestler, und man merkt, wie sorgfältig sie ihre Worte wählt. "Ein anonymer Briefeschreiber wartet bis kurz vor der Verleihung, überzieht mich mit einer Flut von 30 Einzelvorwürfen, und als Folge wird die Beweislast umgekehrt."

Am späten Nachmittag die endgültige Entscheidung im DFG-Vorstand: Die nötige Überprüfung ist zu komplex, die in weniger als 24 Stunden anstehende Ehrung Nestlers wird ausgesetzt. Auf dem Foto der Leibniz-Preisträger auf der Treppe des Konzerthauses am Gendarmenmarkt wird sie für immer fehlen.

Ende gut, alles gut?

Nestler habe der Aussetzung zugestimmt, stellt die DFG fest. Sie selbst sagt, am schlimmsten sei die Machtlosigkeit gewesen. "Man weiß, man ist unschuldig, und doch traut man dem System nicht. Man fragt sich: Wieso wird dem überhaupt nachgegangen?" Nestler, 45, ist Professorin für Mikrostruktursimulation in der Werkstofftechnik am Karlsruher Institut für Technologie und an der Hochschule Karlsruhe. Sie reicht eine Stellungnahme ein, stürzt sich in die Arbeit, doch die Leichtigkeit ist weg. Während die DFG ermittelt, sitzt sie Kollegen gegenüber und fragt sich: War's der? Oder die? Die DFG hat die Vorwürfe nicht veröffentlicht; Nestler sagt nur, dass sie bis 1999 zurückreichen. Die jüngsten beziehen sich auf 2013. Klar ist: Der Verleumder verfolgt ihre Arbeit und die ihrer Forschergruppe seit Langem.

Von ihrer Entlastung erfährt sie Ende Juni. Dzwonnek lädt sie zur Jahresversammlung ein. Am Tag der nachgeholten Verleihung verkündet eine DFG-Pressemitteilung: "Kein wissenschaftliches Fehlverhalten von Britta Nestler."

Ihre Erleichterung ist riesig. Also Ende gut, alles gut? Noch nicht: "Ich würde gern mein glückliches Forscherleben wiederaufnehmen, wo ich es im März verlassen habe." Vorher aber will sie reden, um anderen ihre Erfahrung zu ersparen. "Die DFG lässt immer noch anonyme Hinweise zu. Das muss aufhören." Muss es das? Anonymen Whistleblowern schenke man Gehör, sagt Dzwonnek, weil einige "Menschen in gutem Glauben und zum Wohl der Wissenschaft Hinweise gegeben haben und als Folge persönliche Nachteile erlitten". Trotzdem müsse die DFG Konsequenzen erwägen. "Was bislang nicht formuliert ist in unseren Empfehlungen, sind mögliche strafrechtliche Folgen, wenn jemand in der bewussten Absicht zu schaden handelt."

Nestler reicht das nicht. Sie fordert, dass Whistleblower vor Ermittlungen ihre Identität preisgeben müssen - am besten gegenüber den längst existierenden Ombudsleuten, die nur dann Namen an die DFG oder die zuständigen Unis weiterreichen dürften, wenn sich die Vorwürfe als konstruiert erweisen. Dzwonnek sagt, das "hat etwas. Darüber kann man nachdenken." Auch der Wissenschaftsrat bietet Stoff zum Nachdenken: Er forderte schon 2015 eine nationale Plattform, um den Umgang mit Vorwürfen zu standardisieren.

Was Nestlers Fall zusätzlich kompliziert machte: die bevorstehende Auszeichnung und dass schon alle wussten, dass sie diese bekommen sollte. Was war wichtiger? Den Preis schützen oder die Preisträgerin? Debora Weber-Wulff ist Professorin an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin und arbeitet mit bei Vroni Plag Wiki, das zahlreiche Plagiatoren zu Fall gebracht hat. Sie sagt, die DFG hätte die Verleihung an Nestler durchziehen, ermitteln und erst bei Bestätigung der Vorwürfe den Preis gegebenenfalls zurückziehen müssen. "Mit der Aussetzung haben sie das ganze Risiko auf eine Forscherin abgewälzt."

Dzwonnek sagt: "Es ging auch um die Integrität dieser so besonderen Auszeichnung." Unterstützung erhält sie von Bernhard Kempen, dem Präsidenten des Deutschen Hochschulverbands. "In so einem Fall kann eine Institution nicht so tun, als sei nichts gewesen. Das wäre auch für die anderen Preisträger eine Zumutung." Jetzt sei die wissenschaftliche Community Nestler in besonderer Weise verpflichtet, weil es jedem ergehen könne wie ihr: "Wir müssen sie erst recht und aktiv als das behandeln, was sie ist: eine herausragende Wissenschaftlerin."

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