Baden-Württemberg:"So Bilder zu posten, ist schon krass!"

Belgium Brussels 22 february 2016 Illustration about the haressment on social networks Reporters

2014 sagten in einer Studie 17 Prozent der befragten Jugendlichen, dass im vorherigen Jahr über sie Falsches oder Beleidigendes im Netz verbreitet wurde. (Symbolbild)

(Foto: imago/Reporters)

Baden-Württemberg kämpft mit einem Pilotprojekt gegen Mobbing an Schulen. Wie sehen die Schüler das Thema? Besuch in einer neunten Klasse.

Von Matthias Kohlmaier, Karlsruhe

Das Foto zeigt einen jungen Mann unter der Dusche, er trägt eine Badehose. Darunter steht: "So ein Lappen - duscht mit seiner Sporthose... KLEINER Pimmel oder was????" Dahinter drei Smileys, die Tränen lachen. Später heißt es in dem Chat, in dem mehrere Jugendliche schreiben, die offenbar in die gleiche Schule gehen: "So einen wollen wir nicht in unserer Klasse", "Warum ist der hier in der Gruppe? Verpiss dich mal" und "Der sollte sich mal Deo kaufen #danielschweiß".

Die Konversation im Kurznachrichtendienst Whatsapp ist zwar fiktiv, die Schüler einer neunten Klasse der Karlsruher Tulla-Realschule bringt sie trotzdem zum Nachdenken. Sie sprechen heute mit ihrer Lehrerin Rebecca Vorbach über Cybermobbing - aber erst mal sprechen sie miteinander über das, was sie gerade gelesen haben. Klar machen sich ein paar der offenkundig coolen Jungs lustig und nennen die erfundenen Schreiber "Assis". Einer aber sagt auch (dabei versucht er, betont desinteressiert zu klingen): "So Bilder zu posten, ist schon krass!" So kann man es sagen.

Auszeichnung für Tulla-Realschule

Weil sie das 18-monatige Programm nach der Olweus-Methode erfolgreich umgesetzt hat, wird die Karlsruher Schule am 21. Februar 2019 für ihr Anti-Mobbing-Engagement ausgezeichnet. Zu diesem Anlass präsentieren wir Ihnen nochmal diesenText über die Schule aus dem Januar 2017.

Das Thema Mobbing macht betroffen, nicht nur die Karlsruher Schüler. Je nach Studie haben entweder viele oder sogar erschreckend viele Schüler selbst schon Ausgrenzung erfahren, Beleidigungen und körperliche Attacken erlitten. In einer Befragung der Uni Lüneburg gab kürzlich fast jeder dritte Schüler an, in letzter Zeit mindestens einmal "fertig gemacht oder schikaniert" worden zu sein. 2014 sagten laut der JIM-Studie 17 Prozent der befragten Jugendlichen, dass im vorherigen Jahr über sie Falsches oder Beleidigendes im Netz verbreitet wurde.

"Mobbing ist einer der zentralen Risikofaktoren für das Auftreten nicht nur psychischer Erkrankungen, sondern auch von selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität im Kindes- und Jugendalter", sagt Michael Kaess, Oberarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Heidelberger Uniklinikum. Er begleitet derzeit ein Pilotprojekt an ausgewählten Schulen in Baden-Württemberg. Dort wird das Anti-Mobbing-Konzept getestet, das der Psychologe Dan Olweus bereits in den 1980er-Jahren entwickelt hat.

Im Olweus-Programm werden nicht nur ein paar Lehrkräfte für das Thema sensibilisiert und eigens geschult, sondern alle Beteiligten an der jeweiligen Schule. Alle Schüler, deren Eltern und eben auch alle Lehrkräfte. Das macht die Prävention extrem aufwendig, allein 18 Monate dauert es, bis das Konzept sämtliche schulischen Strukturen durchdrungen hat. In den USA und Skandinavien wird Olweus dennoch seit Jahrzehnten mit großem Erfolg angewandt.

Speziell für die Lehrer ist es aufgrund von Gesprächskreisen und Feedbackrunden mit erheblichem Mehraufwand verbunden. "Der lohnt sich aber auf jeden Fall, auch wenn anfangs natürlich manche Kollegen Sorgen hatten wegen der zusätzlichen Arbeit", sagt Lehrerin Vorbach, die ihre Kollegen zu Beginn des Programms vorbereitet hat. "Aber dass wir an unserer Schule etwas gegen die sich häufenden Mobbing-Fälle tun mussten, war schnell allen klar."

Erste Auswertung des Pilotprojekts stimmt optimistisch

So haben sie und die anderen Lehrkräfte der Schule viele Gespräche geführt, Regeln festgesetzt und im vergangenen Schuljahr einen ganzen Olweus-Tag mit den Schülern veranstaltet. Das Programm zielt stark darauf ab, allen Beteiligten bewusst zu machen, was Beleidigungen und Schikanen bei den Opfern auslösen. Es soll ein Bewusstsein geschaffen werden, durch das möglichst viele Schüler die Courage entwickeln, sich entweder bei Mobbing selbst für den Betroffenen einzusetzen oder brenzlige Situationen zumindest bei Lehrern und Eltern anzuzeigen. Das sei der schwierigste Schritt, räumt Rebecca Vorbach ein, viele hätten die Sorge, dann als Petze dazustehen. Psychologe Michael Kaess sagt: "Mobbing darf nichts sein, wo die Schüler wegschauen oder im schlimmsten Fall sogar noch applaudieren."

An den zehn Schulen, an denen Olweus seit dem Schuljahr 2015/16 eingeführt wird, scheint das zu gelingen. Bei den ersten Auswertungen nach zwölf Monaten gaben etwa 22 Prozent weniger Schüler an, im vergangenen Vierteljahr gemobbt worden zu sein. Auch der Prozentsatz an Schülern, die sich selbst als Täter eingeordnet hatten, sank unter den etwa 3000 befragten Schülern von 7,1 auf 5,9 Prozent. Aus Sicht von Kaess fast noch wichtiger ist ein weiteres Ergebnis: Diejenigen Schüler, die über eine Reduktion von Mobbing berichteten, hegten auch deutlich weniger Suizidgedanken. Den Psychologen stimmen die Daten auch insofern optimistisch, als in Vorgängerstudien zu Olweus das Programm erst nach zwei Jahren die besten Ergebnisse gezeigt habe. "Wir sind auf einem guten Weg", sagt Kaess.

Rebecca Vorbach kämpft derweil mit der Aufmerksamkeitsspanne ihrer Neuntklässler. Waren die an dem fiktiven Chatverlauf noch sehr interessiert, beschäftigt sich der ein oder die andere lieber mit schulfremden Dingen, während es um Definitionen von Cybermobbing und rechtliche Fragen geht.

Das ändert sich erst, als es gegen Ende der Doppelstunde um die 13-jährige Megan geht. Dieser Fall ist leider nicht frei erfunden, sondern real. Die Schülerin hatte sich online in einen vermeintlichen Jungen verliebt, der in Wahrheit eine ehemalige Freundin war, die sich an dem Mädchen rächen wollte. Als der "Junge" plötzlich keinen Kontakt mehr mit ihr wollte, erhängte sich Megan. In der Klasse ist es still, viele gucken betroffen, die Geschichte geht ihnen nahe. "Wenn man sie in ihrer eigenen Lebenswelt abholt, bringt das den Schülern den größten Erkenntnisgewinn", sagt Vorbach später.

Auch abseits nackter Zahlen zeigt die Mobbing-Prävention an der Tulla-Realschule in Einzelfällen bereits Wirkung. Kürzlich habe der Vater eines Schülers einen von dessen Klassenkameraden angezeigt. "Ich will nicht beurteilen, ob das in diesem Fall die richtige Entscheidung war", sagt Vorbach. Es sei aber gut, dass der gemobbte Schüler überhaupt etwas zu seinen Eltern gesagt habe. "Früher hätte er das wahrscheinlich verschwiegen, um keinen Ärger zu bekommen. Für mich als Lehrerin ist das ein kleiner Erfolg." Für den betroffenen Schüler hoffentlich auch.

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