Dortmund und Fußball:Berliner Borusse fürs Leben

Warum wird man Fan einer Fußballmannschaft, in deren Stadt man nie gelebt hat? Unser Autor erklärt, wie seine Liebe zu Borussia Dortmund begann - und welche Rechnung er mit Mario Götze offen hat.

Von Nicolas Diekmann

Ich bin acht Jahre alt und sitze vor dem Fernseher, mein Kopf unter der Topfschnittfrisur ist hochrot. In der Hand halte ich den BVB-Wimpel, auf dem Herzen trage ich das Vereinsemblem. Auf dem Fernsehschirm Fahnen, Hunderte Kilometer weit weg, Schwarz-Gelb und Gesang. Vor allem aber sehe ich dort Tausende Menschen, übereinander, untereinander, nebeneinander. Sie wackeln, dann beben sie. Sie zucken, dann schweben sie.

Es ist das Jahr 1995 und ich blicke auf die Südtribüne des Westfalenstadions. Tausende Menschen auf einer hochhaushohen Schräge, Borussia Dortmunds Pars pro toto. Das beeindruckt nicht nur Gastvereine, sondern auch Achtjährige im fernen Berlin.

Welcher Fußballmannschaft man folgt, hängt von verschiedenen Gegebenheiten ab - am wenigsten aber folgt die Fanliebe der Rationalität. Oft ist es die regionale Verbundenheit, häufig die familiäre Prägung. Und nicht selten spielt unbewusst Erfolg eine wichtige Rolle. Das erste Jahr als Fan des Fußballs kann entscheidend sein für das ganze weitere Leben.

Keine wirklichen Alternativen

Meine erste bewusst erlebte Bundesliga-Saison war 1994/95. Mein Hort-Erzieher in diesem entscheidenden Jahr war Borusse, meine Alternativen hießen Stuttgart (Vater) und Berlin (Heimat). Es waren keine wirklichen Alternativen, viele Fußballfans werden das verstehen. Am Ende der Saison 1994/95 stand der erste Meistertitel seit mehr als 30 Jahren - für Borussia Dortmund. Vom Faktor Erfolg nehme ich mich also nicht ganz aus.

Und dennoch: diese Südtribüne! In welch besonderes Konglomerat von Fans und Team, Stadt und Region mein Herz reingerutscht war, merkte ich erst später.

Schlussjubel DO die Spieler tanzen und feiern vor der Suedtribuene Feature Fussball Champions L

Die schwarz-gelbe Wand: die Südtribüne im Dortmunder Fußballstadion

(Foto: imago sportfotodienst)

Dabei ist Dortmund keine Stadt, die Ortsfremde mit Schönheit erobert; das musste ich feststellen, als ich mit 17 Jahren das erste Mal dort war. Der schwerste konventionelle Luftangriff im Zweiten Weltkrieg zerstörte das historische Stadtzentrum fast komplett. An vielen Ecken dominieren Nachkriegsbauten das Bild. Und Dortmund ist keine einfache Stadt. Mehr als eine halbe Million Menschen leben hier, die Arbeitslosenquote liegt bei 13 Prozent - eine der höchsten in Nordrhein- Westfalen. Der Strukturwandel im Ruhrgebiet mit verschwindenden Berufsfeldern und prekären Beschäftigungsverhältnissen verunsichert die Region und ihre Menschen.

In vielerlei Hinsicht mag dem Fußball zu viel Bedeutung beigemessen werden. Als ich aber mit 17 meine Dortmund-Premiere feierte, sah ich, was Fußball aus einer Stadt machen kann - und eine Stadt aus dem Fußball. Ich schlenderte über den Friedensplatz, trank im Schilling Brinkhoff's. Egal, mit wem ich redete, Smolarek und Koller bestimmten den Gesprächsverlauf. Es war 2003 und es war Heimspielsamstag.

Hier düngen Tauben in Schwarz-Gelb

Später habe ich einige Zeit in München gelebt. Dass dort einer der größten Clubs der Welt zu Hause ist - man merkt es kaum, wenn man durch die Stadt läuft. Von Berlin ganz zu schweigen. Dortmund aber ist durchsetzt mit den Vereinsfarben, hier düngen Tauben in Schwarz-Gelb.

Wie eng Stadt und Verein verwoben sind, zeigt sich seit der Entstehung des Vereins 1909. Einige Kilometer entfernt vom Stadion liegt der Borsigplatz, ein ziemlich gewöhnlicher zweispuriger Kreisverkehr. Hier gründete sich die Borussia, hervorgegangen aus der Dreifaltigkeitsgemeinde. Junge polnische Arbeiter gingen nicht nur gemeinsam zur Kirche, sie spielten auch zusammen Fußball. Als ihnen dies verboten werden sollte, riefen sie aus Protest die Borussia ins Leben, einen von der Kirche unabhängigen Verein. Es waren Männer, die sich unter Tage ihre Lungen und als Stahlarbeiter ihre Rücken kaputtmachten - Ruhrgebiet pur.

Wo Kloppo weint

Heute ist der Borsigplatz Ort der großen Triumphzüge, wie jenem im "Double"-Jahr 2012, nach dem Gewinn von Meisterschaft und Pokal, als Trainer Jürgen Klopp beim Autokorso genau hier die Tränen kamen.

Doch nicht nur Emotionen schaffen Anhängerschaft. In Dortmund wird die Fanliebe geradezu generalstabsmäßig entfacht. Die Erstsemester der TU Dortmund versammeln sich zum Auftakt ihres Studiums nicht in heruntergerockten Vorlesungssälen. Sie werden im Stadion von der Hochschulrektorin begrüßt - Fanschal inklusive. Und wenn sich die Studenten abends unter all jene mischen, die schon immer hier waren, fragen sich einige: Studenten- oder Fußballkneipe? Meist sind die Lokalitäten beides in einem.

Ich selbst war nie länger als ein Wochenende im Ruhrgebiet. Das reicht nicht, um die Mentalität der Menschen dort zu beschreiben. Ein Duisburger Freund sagte mir mal, im Pott sei man "ehrlich geradeaus". Vielleicht kommt das auch den Dortmundern nahe, zumindest ist es das, was wir Fans von den Jungs auf und neben dem Rasen erwarten.

Wut auf den vielleicht besten Fußballer in Schwarz-Gelb

Als bekannt wurde, dass Mario Götze zu Bayern München wechselt, wanderten auch meine Emotionen: vom ersten Schock in kurze Trauer und letztlich in anhaltende Wut. Wut, weil da einer aus der eigenen Jugend dem Geld folgt, anstatt sich seinem Ausbildungsverein dankbar zu zeigen. Dass das Fußballgeschäft nun mal dieser Logik folgt, ist auch an Dortmund nicht vorübergegangen. Doch wir Fans vermissten einen aufrichtigen Dank, eine ausführliche Wechselbegründung des vielleicht besten Fußballers, der jemals in Schwarz-Gelb auflief. Ehrlich geradeaus fühlte sich das für viele nicht an.

Ab und an erwische ich mich bei einer Rechtfertigung, warum ich so selten in Dortmund bin und nur eine Handvoll Spiele im Westfalenstadion verfolgt habe. Überflüssige Gedanken, eigentlich. Denn wir Fan-Exilanten schaffen uns ein bisschen Dortmund in der Fremde. Auch wir streifen samstags unser Trikot über und öffnen früh das erste Bier. Nur geht's dann nicht ins Stadion, sondern in die Kneipe um die Ecke. In Berlin heißt unsere Bratwurst meist Döner und Stadiongesänge üben wir heimlich mithilfe von Youtube.

"Wo die Liebe hinfällt", sagt meine Mutter oft in anderem Zusammenhang. Das trifft im Kern auch auf die Wahl deines Vereins zu. Du grummelst, wenn sie verlieren, du schwebst, wenn es läuft. Du kannst es nicht ändern und nicht davor weglaufen: Wo die Liebe hinfällt.

Geguckt wird auch, wenn es weh tut

Seit vier Jahren erleben wir Borussen ein Dauerhoch (den derzeitigen Tabellenstand mal ausgeblendet). Da fällt das Fansein leicht. Doch gab es vor Klopp andere Zeiten: Nevio Scala und Bernd Krauss hießen da die Trainer, später dann Jürgen Röber und Thomas Doll. Geguckt wird auch, wenn es weh tut. Seit 16 Jahren führt Dortmund die bundesweite Statistik an: Im Schnitt kommen inzwischen mehr als 80 000 Menschen ins Stadion, mehr, als in Gießen wohnen. Ich gehe in meine Kneipe um die Ecke, in der auch dann Dortmund gegen Augsburg gezeigt wird, wenn zeitgleich Bayern auf Hertha trifft.

Ich habe Glück gehabt. Wäre mein Erzieher damals Bremen-Fan gewesen - wer weiß. Wäre Bayern Meister geworden - nicht auszudenken. So aber schenke ich seit 20 Jahren einer Mannschaft meine Hingabe, deren Markenslogan vielleicht pathetisch, für einige vielleicht absurd emotional klingt. Doch dieser Slogan beschreibt nun mal das, was Verein und Stadt verbindet. Fahrt hin, wenn ihr es nicht glauben könnt: echte Liebe.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: