Bildungsstudien:Immerwährender Zeugnistag

Abitur beginnt mit der Deutsch-Prüfung

Unzählige Tests und Studien fragen heute den Wissensstand von Schülern ab.

(Foto: dpa)

Unzählige Tests und Studien prüfen heute das Wissen von Mädchen und Jungen ab. Die Vermessung der Schüler ist nach dem Pisa-Schock zum Standard geworden. Das hat auch das Schulsystem verändert. Ob jedoch zum Guten, darüber streiten Bildungsexperten vor der Veröffentlichung der neuesten Pisa-Ergebnisse.

Von Johann Osel

Manfred Prenzel gilt als höflicher und ruhiger Mensch, nicht als Hitzkopf. Besucht man den deutschen Chef der Pisa-Studie dieser Tage an seiner Fakultät und spricht mit ihm über die Reformen seit dem berühmten Pisa-Schock, fällt indes seine Mischung aus Lächeln und Gelassenheit ganz besonders auf. Kommende Woche erscheint der neue Schülervergleich. Und Professor Prenzel, Dekan der "School of Education" an der Technischen Universität München und Leiter des nationalen Pisa-Forschungsverbunds, ist einer der wenigen Menschen, die jetzt schon die Ergebnisse kennen. Natürlich schweigt er dazu eisern, lächelnd gleichwohl. Bildungspolitische Auguren könnten darin nun Zeichen sehen, dass es freudige Ergebnisse geben wird, dass nach der Krise von 2001 und den stetigen Verbesserungen seither die deutschen Schüler womöglich abermals eine Schippe drauflegen konnten. Womöglich.

Vielleicht ist die Gelassenheit aber auch nur reine Zufriedenheit - weil das Schulsystem heute ein anderes ist als damals und weil der empirischen Bildungsforschung, Prenzels Profession, dabei eine tragende Rolle zukommt. Die Vermessung der Schüler, eine zahlenbasierte Bildungspolitik also, ist längst zum Standard geworden. Vor zwölf Jahren musste das vermeintliche Land der Dichter und Denker erkennen, dass die Leistungen der Schüler in Mathematik und beim Lesen international nur schnödes Mittelmaß waren. In der vergangenen Dekade ist dann in der Bildungspolitik vieles passiert, was man zuvor kaum für möglich gehalten hätte.

Kindergärten und Kitas sollen heute wie selbstverständlich Bildung vermitteln und nicht nur die Kleinen betreuen - frühkindliche Bildung heißt das Zauberwort, einst wäre derlei noch als Ausverkauf der Kindheit abgetan worden. Die Hauptschulen, die laut Pisa-Studien das größte Potenzial an "Risikoschülern" bergen, sind in den meisten Bundesländern mit Realschulen vereint worden. Jugendliche sollen nicht mehr nach der vierten Klasse auf eine Schulkarriere festgelegt werden, propagiert sogar selbst manch konservativer Minister. Zentral für die Post-Pisaschock-Politik aber ist das Vertrauen in die Zahlen.

"Wohltuende Sachlichkeit"

"Pisa und andere Studien haben in die aufgeregte Bildungsdebatte eine wohltuende Sachlichkeit eingeführt", bilanziert Prenzel. "Nicht alles, was Bildung ausmacht, aber doch zentrale Aspekte lassen sich mit Tests und Fragebogen beschreiben und weniger ideologisch diskutieren als früher." Es gibt heute ja nicht nur die Pisa-Studie alle drei Jahre, es gibt inzwischen unzählige Studien und Tests, international, zwischen Bundesländern und regional. Forscher landauf, landab prüfen Schüler ab, analysieren den Unterricht, entwickeln "Kompetenzmodelle" und "Bildungsstandards" und überprüfen diese wieder regelmäßig.

Bildungsdeutschland - Schüler, Lehrer, Eltern, Politiker und das Gros der Wissenschaft - scheint sich damit abgefunden zu haben, dass Schule durch Kennzahlen bestimmbar ist. Ein immerwährender Zeugnistag sozusagen.

"Durchs Wiegen wird die Sau nicht fetter"

Die meisten seiner Kollegen seien mit der Pisa-Studie politisch großgeworden und hätten "keine Scheu vor datenbasierter Politik", sagt der Vorsitzende der Kultusministerkonferenz (KMK), Sachsen-Anhalts Ressortchef Stephan Dorgerloh. Es sei heute Konsens, "dass ideologische Glaubenskriege keine bildungspolitischen Erfolge bringen".

So hat die KMK Schritt für Schritt ein System aus Bildungsstandards und Vergleichsarbeiten aus der Taufe gehoben. Auf diese Weise hat man etwa unlängst festgestellt, dass die ostdeutschen Schüler in Mathematik die Nase vorn haben, weshalb die KMK nun die Lehrerausbildung im Westen verändern will. Aus Datenerhebungen ist auch die Idee mit den gemeinsamen Aufgaben aller Länder beim Abitur entstanden, das Projekt soll 2014 beginnen. Um ihre Erkenntnisse in die Schulen zu bringen, setzt die Bildungsforschung auf die Ausbildung der Pädagogen. An Prenzels Uni arbeiten Bildungsforscher mit angehenden Lehrern eng zusammen und probieren zum Beispiel in Mathe neue Unterrichtselemente aus, deren Wirkung man dann in Tests sofort überprüft.

"Durchs Wiegen wird die Sau nicht fetter", hält indes die Lehrergewerkschaft GEW dagegen und mahnt mehr Geld für die Schulen an, statt es in immer neue Studien zu stecken. Zugleich warnt sie, dass die Schulen immer mehr zu "Produktionsstätten abfragbaren Wissens" würden und spricht vom "Dreischritt Lernen, Testbestehen, Vergessen".

"Magere Bilanz" der Bildungsstudien

Eine "magere Bilanz" der unzähligen Studien und vielen Millionen Euro für die Empiriker erkennt auch Andreas Gruschka. Der Frankfurter Pädagogik-Professor empört sich, dass die Bildungsvermesser den "Anspruch auf die einzig wahre Forschung" erhöben. Unterrichtsstunden seien "immer Premieren, deren Drehbücher selbst nur begrenzt festliegen und die nicht von Experten geschrieben werden können". In einer Bildungsforschung, die nur "abstrakte Wirkungsmodelle" hervorbringe, verstünden die Lehrer nicht, was sie nun anders machen sollten - sie "sehen sich mehr als Opfer von Umstellungen, nicht mehr als deren Adressaten".

An den neuen Pisa-Messungen kommende Woche wird sich also auch die Strategie in der Schulpolitik messen lassen müssen. Konnten sich die 15-Jährigen behaupten oder gar verbessern, werden sich die Minister auf die Kritik kaum einlassen.

Bei der 2009 erschienenen Pisa-Studie fiel vor allem der Trend in Mathematik auf. Hier zählte Deutschland zum besten Drittel der Staaten. Die Macher der Studie zogen einen Fußballvergleich: "Deutschland ist aufgestiegen, aus der zweiten in die erste Liga. Von der Champions League ist das Land aber noch weit entfernt." Das heißt auch: Es gibt Potenzial nach oben.

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