Wohnungsnot in Bayern:Geschlafen wurde im Schichtbetrieb

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In den Dreißigerjahren entsteht im Augsburger Stadtteil Bärenkeller neuer Wohnraum. Auch in vielen anderen Städten wird gebaut. (Foto: WBG; Bearbeitung SZ)

Schon vor 100 Jahren entwickelt sich der Mangel an Wohnraum in Bayern zum sozialen Sprengstoff. Im Vergleich zu heute war früher die Lage oftmals noch viel schlimmer.

Von Andreas Remien

Der Hilfeschrei des Wohnungsverbandes ist dramatisch. "Seit Menschengedenken" dürfte kein derartiger Mangel an Wohnungen zu verzeichnen gewesen sein, schreibt der Vorsitzende L. Paucker in einem offenen Brief an die neue bayerische Staatsregierung. Das Problem ist hochaktuell, die Mitteilung aber schon 99 Jahre alt. In bayerischen Städten ein Zuhause zu finden, war in vielen Zeiten eine schwierige Angelegenheit. Für jemanden, der heute keine bezahlbare Wohnung findet, mag es ein schwacher Trost sein. Aber im Vergleich zu heute war früher die Lage oftmals noch viel schlimmer.

Zu einer sozialen Frage wurde das Thema Wohnen schon im 19. Jahrhundert. Während der Industrialisierung wuchsen im bis dahin agrarisch geprägten Bayern die Städte in einem nie da gewesenen Tempo. So wie heute konnten die großen Kommunen den Zustrom kaum bewältigen, es gab viel zu wenige Wohnungen. "Von den vielen Prachtbauten, die oft im Stile des Historismus entstanden, hatten die Arbeiter nichts", sagt der Historiker Matthias Georgi, Geschäftsführer von Neumann & Kamp Historische Projekte.

Die sogenannten Minderbemittelten hausten oft unter elenden Bedingungen, in dreckigen Zimmern, feuchten Kellern oder zugigen Dachböden. Und es ging es ziemlich eng zu. "Eine Behausung galt erst dann als überbelegt, wenn pro beheizbarem Raum mehr als fünf Personen lebten", berichtet Georgi. Weil Wohnungen schon damals für Geringverdiener kaum bezahlbar waren, wurden sie oft mehrfach untervermietet, geschlafen wurde im Schichtbetrieb. Der Historiker hat einen Brief entdeckt, in dem ein Besucher aus England seine Eindrücke schildert: Ihm sei nun begreiflich, so schrieb der Brite damals, warum der deutsche Arbeiter sein Vergnügen nicht in seinem Heim finde, "sondern in der Kneipe".

Die katastrophalen hygienischen Zustände führten schließlich zu Krankheitsepidemien, vor allem Tuberkulose und Cholera waren weit verbreitet. Mediziner wie Robert Koch oder Max von Pettenkofer forderten "mehr Licht und Luft" in den Wohnungen. Private Baufirmen, oftmals Aktiengesellschaften, hatten daran allerdings nur wenig Interesse: Gute Wohnungen für die Arbeiter waren für sie meist nicht profitabel genug. Auch der Staat tat wenig. "Man vertraute sehr lange auf die Selbstregulierungskräfte des Marktes", berichtet Georgi. Doch die Rechnung ging nicht auf. In der Not schlossen sich daher immer mehr Bürger zu Genossenschaften zusammen. Im Jahr 1909 gründeten sie den "Verband bayerischer Baugenossenschaften, -gesellschaften und -vereine", den heutigen VdW Bayern. "Ein Hauptziel war die Verbesserung der Wohnungssituation", sagt VdW-Präsident Hans Maier.

Anfang des 20. Jahrhunderts stieg die Anzahl der Genossenschaften sprunghaft an. Nur im deutlich größeren Preußen gab es mehr. Die neuen Genossenschaftswohnungen konnten die Probleme zwar lindern, aber bei Weitem nicht lösen. "Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Wohnungsnot drastisch", sagt Maier. 1919 begann der bayerische Staat, Wohnungen zuzuteilen. Vor allem die Flüchtlingsströme und Heimkehrer verschärften die Lage. Viele Gemeinden gründeten ihre eigenen gemeinnützigen Gesellschaften. In Augsburg, Nürnberg und München entstanden die ersten kommunalen Unternehmen, die städtische Mietwohnungen bauten.

Den Nationalsozialisten war das suspekt. Sie propagierten sogenannte "Reichskleinsiedlungen" auf dem Land, wo die Arbeiter Gemüse anbauen und Kleintiere halten sollten. Was folgte, war die schlimmste Wohnungsnot in der bayerischen Geschichte. Vor allem in den Städten war die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg katastrophal. Mit wenigen Mitteln musste möglichst viel gebaut werden. Die Wohnungsnot war auch deshalb besonders groß, weil zwischen Kriegsende und 1950 allein nach Bayern etwa zwei Millionen Flüchtlinge und Vertriebene kamen. Wie schon nach dem Ersten Weltkrieg entstanden viele neue Baugenossenschaften, und auch kleinere Städte gründeten nun ihre eigenen Wohnungsunternehmen.

Erst gegen Ende der Sechzigerjahre entspannte sich die Situation. Die Strategie, Großsiedlungen wie Langwasser in Nürnberg oder Neuperlach in München zu bauen, zeigte jedoch auch bald ihre Nebenwirkungen. Weil die Quartiere oft schlecht durchmischt waren, entstanden immer mehr soziale Brennpunkte. "Kleine Harlems gibt es auch schon bei uns", warnte der damalige Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel. Dies lag auch daran, dass die Einkommensgrenzen für eine Sozialwohnung im Laufe der Jahre kaum an die steigenden Löhne angepasst wurden. Nur noch die sozial schwächsten Haushalte hatten einen Anspruch auf geförderte Wohnungen, die ursprünglich für viel breitere Bevölkerungsschichten gedacht waren - und es heute wieder sind.

Mittlerweile versuchen Kommunen und Unternehmen, die Fehler der Sechzigerjahre zu vermeiden. Dafür kommen neue Probleme hinzu, etwa die energetische Modernisierung. Die vielen Sozialwohnungen, die in der Nachkriegszeit entstanden sind, kommen in die Jahre. In Städten wie München stehen die Wohnungsgesellschaften auch wieder vor ihrem Urproblem: Sie kommen der Nachfrage nicht hinterher. Weil in Deutschland die Bindungen nach einer bestimmten Zeit auslaufen, gibt es immer weniger Sozialwohnungen. Und weil die Baukosten hoch und Grundstückspreise enorm gestiegen sind, sind die Neubauten teuer. "Auch heute gibt es als Antwort auf den Mangel an bezahlbaren Wohnungen wieder einen Gründungsboom bei den Wohnungsgenossenschaften", sagt Maier - manche Probleme und Lösungen haben sich in den vergangenen hundert Jahren kaum verändert.

© SZ vom 25.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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