Übergangsklassen für Flüchtlinge:Die Multikulti-Schule

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Schüler aus aller Herren Ländern gehen gemeinsam in die Schulen in Bayern - viele müssen allerdings zuerst die Sprache lernen. (Foto: dpa)

Immer mehr Flüchtlingskinder aus aller Welt werden in Übergangsklassen an bayerischen Schulen unterrichtet. Für Lehrer wie Lutz Otto ist das eine große Herausforderung, die sich aber lohnt: Seine Schüler gieren geradezu nach Wissen.

Von Tina Baier, Nürnberg

Ganz vorne im Klassenzimmer der Ü5/6 in der Nürnberger Adalbert-Stifter-Schule steht ein Stuhl mit einem grünen Aufkleber an der Lehne. "Stuhl" steht darauf. Auf dem Stuhl steht Marco und sagt ein Gedicht auf: "Mein Opa heißt Hans", beginnt er. Dann schaut er unsicher seinen Lehrer an. "Keine Angst, ich helfe dir schon", sagt Lutz Otto zu dem Jungen, der in Rumänien geboren wurde und in Spanien und Italien gelebt hatte, bevor er hier gelandet ist. Da fällt Marco wieder ein, wie das Gedicht weitergeht. Als er fertig ist, geht er strahlend an seinen Platz zurück. Beni, Justin, Maria und die anderen applaudieren.

Zwölf Jungen und drei Mädchen im Alter von etwa neun bis zwölf Jahren sitzen in der Ü5/6. Lutz Otto hat den Stuhl und viele andere Gegenstände beschriftet, damit sich seine Schüler die schwierigen deutschen Wörter besser merken können. Die Kinder kommen unter anderem aus Rumänien, Lettland, Italien, und Syrien. Keines ist länger als ein Jahr in Deutschland. Das "Ü" steht für Übergangsklasse. Schulpflichtige Kinder, die aus dem Ausland nach Bayern kommen, sollen in solchen Klassen Deutsch lernen, bis sie dem Unterricht in einer "Regelklasse" folgen können. Nach Informationen aus dem Kultusministerium wurde die Zahl der Ü-Klassen dieses Schuljahr bayernweit von 240 auf 324 aufgestockt.

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Die Klassen sind rappelvoll

"Trotzdem sind die Übergangsklassen rappelvoll", sagt Henrik Schödel, Leiter der Sophienschule in Hof. Hauptgrund seien die vielen Flüchtlingsfamilien, die nach Bayern kommen. "Die Kinder stehen plötzlich vor der Tür - ohne Schulranzen, ohne Stifte, ohne Hefte und ohne Brotzeit", erzählt Schödel. Manche Lehrer brächten Sachen von ihren eigenen Kindern mit, um ihre Schüler wenigstens notdürftig auszustatten.

"Die einzige Gemeinsamkeit der Schüler in den Übergangsklassen ist, dass sie kein Deutsch können", sagt Angelika Thuri-Weiß, Leiterin der Münchner Simmernschule. "Kinder, die noch nie in der Schule waren, sitzen neben Kindern, die Tolstoi auf Russisch lesen." Thuri-Weiß erinnert sich noch gut an eine Familie mit acht Kindern, die in einer Art Erdhöhle gelebt hat, bevor sie nach Bayern kam. Die Lehrer brachten den Kindern erst einmal bei, wie man in einem Buch blättert.

Kannst Du mal kommen? Kannst Du mal schauen?"

Solche Extremfälle hat Lutz Otto nicht in der Klasse. Trotzdem ist es eine Herausforderung, allen Kindern gerecht zu werden. "Herr Otto, Herr Otto", kannst du mal kommen, kannst du mal schauen, kannst du mir mal helfen, rufen seine Schüler gefühlte 500-mal an einem einzigen Vormittag. Lutz Otto sieht, dass Aaliyah, das syrische Mädchen, das erst seit vier Tagen in der Klasse ist, nur einen dicken Holzfarbstift für Erstklässler zum Schreiben hat, kramt in seinem Schreibtisch und gibt dem Mädchen einen Bleistift. Er weiß, dass Beni gut in Mathe ist und hat deshalb ein Extra-Arbeitsblatt mit schwierigeren Aufgaben vorbereitet. Er hat im Hinterkopf, dass Mirko geweint hat, als er vor einigen Tagen das erste Mal in die Schule kam und lobt ihn überschwänglich als der Junge die Wörter "die Schwester", "der Großvater" und "die Tante" fast fehlerfrei ausspricht.

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"Das Schöne ist, dass viele Kinder in den Übergangsklassen so bildungshungrig sind", sagt Otto. Etliche schaffen ausgezeichnete Schulabschlüsse, wenn sie erst einmal die Sprache gelernt haben. Auch seine Schüler arbeiten begeistert mit. "Für Großmutter gibt es noch ein anderes Wort", sagt Otto und schon sind acht Finger in der Luft. Sogar in der Pause wollen einige Kinder ihrem Lehrer noch das Gedicht von Opa Hans aufsagen, weil sie es im Unterricht noch nicht vortragen durften.

"Um in einer Übergangsklasse zu unterrichten, braucht man Empathie", sagt Otto. "Vielleicht auch die Erfahrung, wie man sich fühlt, wenn man allein in einem fremden Land ist und die Sprache nicht versteht." Wichtig seien auch interkulturelle Kompetenzen: also zu wissen, dass Schüler aus islamischen Ländern auf den Boden schauen, wenn ihr Lehrer mit ihnen spricht; oder dass die Schüler in manchen Ländern aufstehen, wenn sie etwas sagen.

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Eine große Schwierigkeit ist, dass während des Schuljahres ständig neue Schüler dazukommen, mit denen Otto wieder ganz von vorne anfangen muss. Derzeit sind 15 Kinder in seiner Klasse, eigentlich 16 aber ein Schüler ist schon seit längerem krank. "Im November werden es mehr als 20 sein", prophezeit Reinhard Rombs, Rektor der Adalbert-Stifter-Schule. "Wir warten auf die große Welle", sagt Otto. Auf die Kinder der Flüchtlinge, die in den vergangenen Wochen nach Bayern gekommen sind und die erst registriert werden müssen, bevor sie auf die Schulen verteilt werden, in denen es Übergangsklassen gibt. An der Adalbert-Stifter-Schule gibt es neun Ü-Klassen. Dreißig Plätze hat Rombs noch frei - dann sind alle Übergangsklassen mit 20 Schülern belegt. Mehr dürfen es seiner Ansicht nach nicht sein, sonst ist mit ihnen kein vernünftiger Unterricht mehr möglich.

Sozialpädagogen und Räume fehlen

Bei den zuständigen Behörden stößt Rombs mit dieser Ansicht allerdings auf taube Ohren. Wenn er seine Bedenken äußert, wird ihm empfohlen, Kinder, die schon einige Zeit eine Übergangsklasse besuchen, eben in Regelklassen "weiterzuschieben" - auch wenn die Lehrer der Ansicht sind, dass die Schüler noch nicht so weit sind. Auch die sanfte Drohung: "Oder wollen Sie, dass die Kinder auf der Straße stehen?", hat Rombs schon zu hören bekommen. Zusätzliche Übergangsklassen zu eröffnen ist schwierig. Denn erstens gibt es an den meisten Schulen keine freien Räume und zweitens gibt es keine Lehrer. "Der Markt ist leergefegt", sagt Rombs. Auch Sozialpädagogen fehlen. An der Adalbert-Stifter-Schule gibt es nur eine einzige Sozialpädagogin für 600 Schüler. Und das, obwohl gerade in den Übergangsklassen oft Schüler mit dramatischen Biografien sitzen.

Wenn neue Kinder in seine Klasse kommen, weiß Otto kaum etwas über ihren Hintergrund. Alles was er hat, ist ein dürftiger Aufnahmebogen, aus dem nicht viel mehr hervorgeht als Name, Alter und der Geburtsort des neuen Schülers. Zwei seiner Schüler sind in einem kleinen Ort irgendwo in Syrien geboren. Wenn man den Namen googelt, erscheinen Berichte über Kämpfe zwischen den Dorfbewohnern und der Terrororganisation ISIS. "Ich glaube nicht, dass ich den Kindern und ihren Familien helfe, indem ich versuche herauszufinden, was für schreckliche Dinge sie erlebt haben", sagt Otto.

Er will seinen Schülern Normalität vermitteln und ihnen das Gefühl geben, dass sie in Bayern willkommen sind. Bei Gesprächen mit den Eltern spürt er dann manchmal eine große Beruhigung: darüber, dass ihre Kinder endlich sicher und gut aufgehoben sind.

(Die Namen aller Kinder sind geändert.)

© SZ vom 24.10.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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