Kriminalitätsopfer:"Ich habe jede Lebenslust verloren"

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Kriminalitätsopfer haben oft das Gefühl und die Erfahrung gemacht, dass ihnen weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird als dem Täter. (Foto: Ute Grabowsky/Imago)
  • Opfer von Gewalttaten müssen sich nicht nur von den körperlichen Schmerzen erholen.
  • Oft leiden sie lange nach dem Angriff weiter und verlieren sogar ihre Arbeit.
  • Zwar bekommen die Menschen nach dem Opferentschädigungsgesetz Unterstützung, doch ihr Leben ist ein anderes.

Von Dietrich Mittler, München

"Weitergehen!", das war der erste Impuls, der Ismail Karagöz durch den Kopf schoss, als er vor fünf Jahren am frühen Morgen in einer Unterführung diesen riesigen Mann erblickte, der auf eine Frau einprügelte. Aber die Frau schrie um Hilfe. Karagöz lief also hin, sagte: "Hör auf, lass sie in Ruhe!" Der andere schlug weiter auf sein Opfer ein. Ismail Karagöz (Name geändert) sagte also wieder: "Hör auf, lass sie in Ruhe!" Und damit nahm seine eigene Katastrophe ihren Lauf. Der Riese warf sich nun auf ihn. Dass am Donnerstag bundesweit der Kriminalitätsopfer gedacht wurde, tröstet Karagöz nur wenig. Ohne die Unterstützung seiner Familie und ohne die Hilfe des Weißen Rings, so sagt er, "wäre ich wahrscheinlich nicht mehr hier".

Der Manager Dominik F. Brunner, der es 2009 mit seinem Leben büßte, dass er in der Münchner S-Bahn vier Kinder vor jungen Gewalttätern zu schützen versuchte, wird bis heute als Held verehrt. Ismail Karagöz ist weitgehend vergessen. "Ich habe jede Lebenslust verloren", sagt er. Erlebt er abends bei einem Fernsehfilm ungewollt Szenen mit, in denen es zu einer Schlägerei kommt, kann er tagelang nicht mehr schlafen.

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Dann auch das: Seine Frau sei sich nicht mehr so sicher, ob es gut sei, ein Kind zu bekommen: "Schatz", sage sie, "du vergisst immer alles, und manchmal bist du dann sehr schnell aggressiv." Das gesteht er selbst ein: Die eigene Unzulänglichkeit, die er "diesem Psychopathen" verdanke, mache ihn so wütend. Der Mann, der ihm das angetan habe, sitze nun zwar im Gefängnis, aber dem gehe es relativ gut.

"Ich hingegen leide jeden Tag", sagt Karagöz. Nach Faustschlägen ins Gesicht war der junge Deutsch-Türke zu Boden gesunken. "Dann hat der Typ angefangen, mit seinem Fuß gegen meinen Kopf zu treten." Später haben Ärzte Karagöz mitgeteilt: "Nur einen Tritt mehr, und Sie wären jetzt tot." Unter den Folgen der damals zugefügten Gehirnblutung leidet der inzwischen 28-Jährige bis heute, insbesondere unter den schweren Gedächtnisstörungen. Er verlor seinen Job als Drucker. Früher las er gerne Bücher, nun bekommt er nach wenigen Seiten rasende Kopfschmerzen. "Als würde jemand kommen und was Spitzes oben reinstechen - genau da, wo der hingetreten hat, als ich am Boden lag", sagt er.

Nach dem Krankenhaus-Aufenthalt folgten Reha-Maßnahmen. "Zu früh", wie Karagöz heute sagt, ging er wieder zur Arbeit. "Ich wollte das alles hinter mir lassen", sagt er. Doch in der Arbeit lief es nicht mehr rund: Er vergaß, Aufträge zu erledigen, bediente manchmal die Maschinen falsch. Schließlich sagte sein Chef: "Herr Karagöz, so können wir nicht mit Ihnen arbeiten." Die Kündigung lag schon auf dem Schreibtisch. Weil Karagöz seine Einschränkungen ehrlich benannte, blieben spätere Bewerbungen stets erfolglos. "Nein, kein Interesse. Tut uns leid", das habe er nur zu oft zu hören bekommen.

Das Leben ist zerstört

Kurt Stiermann von der Hilfsorganisation Weißer Ring, der sich in Nordbayern um Gewaltopfer kümmert, sagt: "Im Grunde ist sein Leben zerstört, und er braucht weitere Hilfe." Zum Glück bekomme Karagöz nun wenigstens therapeutische Unterstützung und eine kleine Rente durch die Landesunfallversicherung. "Weil er Nothelfer war", sagt Stiermann. Doch der 28-Jährige wolle halt arbeiten. Aber er bekomme trotz aller Mühen keine Stelle. "Schlimm", sagt Stiermann, "er ist ein so feiner Kerl".

Stiermann steht dem 28-Jährigen auch weiterhin zur Seite. Inzwischen hat er für Karagöz beim Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) einen Antrag auf Unterstützung eingereicht. "Es geht dabei um die Folgen der Tat. Also um die Gehirnschädigungen, durch die er seinen Arbeitsplatz verlor", sagt der 66-Jährige. Er hofft, dass der Antrag Erfolg hat. Immerhin hat das ZBFS, eine Landesbehörde des Freistaats, eigenen Angaben nach im Jahr 2017 Bayerns Gewaltopfer mit knapp 30 Millionen Euro entschädigt.

Gesetzliche Grundlage dafür ist das sogenannte Opferentschädigungsgesetz, das 1976 in Kraft trat. Dabei gilt der Grundsatz: Werden die Opfer von Gewaltdelikten erwerbsunfähig, hilflos oder pflegebedürftig, so muss ihnen der Staat Schutz gewähren. "Es ist Sinn und Zweck des Gesetzes, dass sich das Opfer einer Gewalttat nicht auch noch mit dem Täter über einen Schadenersatz auseinandersetzen muss", sagt ZBFS-Präsident Norbert Kollmer. Die zivilrechtlichen Ansprüche des Opfers gingen in der Folge auf den Staat über. "Wir versuchen daher, vom Täter das Geld wieder zu holen, das wir an das Opfer gezahlt haben", betont Kollmer.

Es hätte noch schlimmer kommen können

Beim Verfassen der Anträge helfen den Gewaltopfern sogenannte Sonderbetreuer des ZBFS - Menschen wie Ralf Bartsch in München. In diesem Monat hatte Bartsch gut zwölf neue Fälle aus dem Raum Oberbayern zu betreuen. Oft geht es dabei um die Kosten der Heilbehandlung, aber auch um Unterstützung bei der beruflichen Wiedereingliederung. Angehörige von Mordopfern sucht der 49-jährige Verwaltungsbeamte meist zu Hause auf. Zu sehr müssten diese erst verarbeiten, was passiert ist. Seine Landshuter Kollegin Stephanie Deinhart, zuständig für Niederbayern, weiß, wie aufgewühlt die Opfer oder deren Angehörige sind. "Es ist oft mit ganz vielen Tränen verbunden", sagt sie.

In der Tat ist es schwer zu verkraften, was geschehen ist - und auch das, was danach geschieht. Ismail Karagöz bekam von Ärzten und Gutachtern zu hören: "Sie sind nicht der Einzige, dem so etwas passiert." Oder: "Seien Sie doch froh, dass Sie überhaupt laufen können!" Hätte er damals in der Unterführung einfach wegschauen sollen? "Nein", sagt er entschlossen. Von der Frau, der er vermutlich das Leben rettete, hat er aber bis heute kein "Danke" gehört. Und der Täter? Der lachte ihm bei der Gerichtsverhandlung frech ins Gesicht.

© SZ vom 23.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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