Flucht aus Syrien:Der verlorene Sohn ist zurück

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Wieder vereint: Der 16-jährige Abdul Asiz, umringt von seinem Vater Abdul Halim (links) und seinem großen Bruder Homam. (Foto: Dietrich Mittler)
  • Auf der Flucht aus dem Bürgerkrieg in Syrien hat eine Familie einen ihrer vier Söhne verloren. Mehr als zwei Jahre war Abdul Asiz verschwunden.
  • Über Facebook fand einer der älteren Brüder den Jungen.
  • Nach einer abenteuerlichen Flucht ist der 16-Jährige mit seiner Familie vereint. Die Eltern und Geschwister leben als Kontingentflüchtlinge in Mittelfranken.

Von Dietrich Mittler

Es ist kalt da draußen, der Winter hat das mittelfränkische Neuendettelsau noch fest im Griff. Aber Familienvater Abdul Halim macht das nichts aus. Auch wenn seine Augen müde wirken, es liegt ein warmer Glanz in ihnen: Nach langer Zeit der Ungewissheit weiß er endlich alle seine sieben Kinder vor dem syrischen Bürgerkrieg in Sicherheit. Väterlich legt er den Arm um seinen 16-jährigen Sohn Abdul Asiz. Mehr als zwei Jahre lang hatte er ihn nicht gesehen. Abdul Asiz "war auf der Flucht in den Libanon plötzlich verschwunden", wie es seitens der Diakonie Neuendettelsau heißt. Wie das geschehen konnte? Asylsozialberaterin Ricarda Quass zuckt mit den Schultern. So wie derzeit vieles im vom Krieg geplagten Syrien, bleibt auch das ein Mysterium.

Fest steht nur, was in den zurückliegenden Monaten geschah: Einer der älteren Brüder hatte Abdul Asiz eines Tages auf einer Facebook-Seite entdeckt. Er rannte zu seinem Vater und rief: "Das ist Abdul Asiz, ich habe ihn gefunden!" Über Facebook wechselten die Brüder, die so lange nichts voneinander gehört hatten, erste Sätze. Abdul Asiz interessierte anfangs nur eines: "Was ist mit euch passiert?" Dann aber fragte er: "Warum bleibe ich allein?"

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Ricarda Quass hütet sich bis heute, danach zu bohren, was die Familie durchmacht hat. "Wir sind eng beieinander, weil ich ihnen helfe, den Alltag zu managen", sagt sie, "aber nach Erlebnissen frage ich nicht." Das sei eine Gratwanderung, bei der man ungewollt in Bereiche dringe, die für die Betroffenen traumatisch seien. Soviel aber sei sicher: Der Vater Abdul Halim hatte in seiner Heimat als Elektro-Ingenieur eine gesicherte Existenz. Die Familie besaß ein eigenes Haus in einem Distrikt nahe der türkischen Grenze. Abdul Halim betrieb dort eine kleine Firma.

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Dann kam der Krieg - so unüberschaubar, dass keiner mehr wusste, wer gerade wo gegen wen kämpfte und wer momentan die Oberhand hatte. Als erste flohen die ältesten Söhne, die nicht als Kanonenfutter verheizt werden wollten. Sie schlugen sich über die türkische Grenze durch. Weitere Familienmitglieder flohen über den Libanon, wie Homam, der älteste Sohn erzählt. Dieses Mal seien der Vater, seine betagte Mutter, seine Frau und wohl auch die jüngeren Kinder mit dabei gewesen. Die Flucht - soviel steht wiederum fest - hätte nicht später erfolgen dürfen. Das Haus der Familie wurde von zwei Bomben getroffen.

Was einmal darin stand, ist geplündert, berichtet der 26-jährige Homam. Sein Vater zuckt mit den Schultern. "Egal", sagt Abdul Hamid. In Neuendettelsau lebt er mit der alten Mutter, seiner Frau und den Kindern in einer Wohnung der Diakonie. Die Familie besitzt nur das Nötigste. Aber, und das kann er nur mit Gesten ausdrücken: Alle sind am Leben, alle sind jetzt nahe bei mir. Wieder legt er den Arm um Abdul Asiz. Der 16-Jährige spricht erst einige Worte deutsch: "Ja." - "Nein" - und: "Ich will Handball spielen." Stolz lacht er in die Runde bei diesem ersten vollständigen Satz in der fremden Sprache. Bald soll er ebenfalls einen Sprachkurs besuchen.

Bruder Homam muss übersetzen, als Abdul Asiz erzählt, wo er sich nach der Trennung überall aufhielt: "Ein bisschen bei meiner Oma, ein bisschen bei meiner Cousine, ein bisschen bei anderen Leuten. Er musste oft umziehen", sagt Homam. Offenbar hielt sich Abdul Asiz in der Stadt Hamah auf, als ihn sein Bruder über Facebook fand. Andere Quellen sagen, er sei in Damaskus gewesen. Auf jeden Fall, Abdul Asiz ging zur Schule, betreut von wechselnden Personen. Und er spielte Handball.

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Von jenem Augenblick an, in dem feststand, dass der Junge lebt, gab es für Vater Abdul Halim kein Halten mehr. Ricarda Quass, die Asylsozialberaterin, wurde gefragt, ob sie helfen könne. Sie konnte - aber es war ein langer Weg. "Ich bin von Pontius zu Pilatus gelaufen", sagt sie. Das Problem: Bis auf eine Tochter, die sich als Asylbewerberin nach Deutschland durchschlagen musste, sind zwar alle Mitglieder der Familie als Kontingentflüchtlinge anerkannt. Gut 1900 solcher Menschen aus Syrien haben in Bayern derzeit diesen begehrten Status und damit ein zeitlich beschränktes Aufenthaltsrecht. Aber für Abdul Asiz schien dieser Weg blockiert. "Das Kontingent war geschlossen - und für das folgende schon alle Personen ausgewählt", sagt Quass. Die Asylsozialberaterin ließ jedoch nicht locker. In Jürgen Berger fand sie im Ansbacher Ausländeramt jemanden, der es gut mit der Familie meinte: Für Minderjährige gebe es eine Ausnahmeregelung.

Abdul Asiz will in die Schule - und Handball spielen

Damit aber waren längst nicht alle Hürden beseitigt. Abdul Asiz musste sich wieder heimlich in den Libanon durchschlagen, um dort bei der deutschen Botschaft ein Visum zu beantragen. "Das war gefährlich", sagt sein Bruder Homam, "man muss Angst haben, im Libanon schlagen viele Leute einfach zu." Abdul Asiz versteckte sich mit einer Tante in einer Wohnung im Grenzgebiet. Als er das Visum in Händen hielt, ging es aber schnell: Durch Spenden finanzierte die Diakonie für den Buben den Flug nach Deutschland. Am Nürnberger Flughafen "konnten sich Vater und Sohn endlich unter Tränen in die Arme fallen", teilte die Diakonie Neuendettelsau mit.

Abdul Asiz hat mit einem Handy in Neuendettelsau erste Fotos gemacht. Seine 30 Facebook-Freunde sollen diese Bilder alle sehen. Er will jetzt wie seine zwei kleinen Schwestern eine deutsche Schule besuchen. Und vor allem Handball spielen: Sein Vater Abdul Halim lacht, packt die kräftigen Hände des 16-Jährigen: "Siehst du, Handball", sagt er anerkennend. Er selbst hat auch Träume. Nachts bete er dafür, dass die 19-jährige Tochter, die als Asylbewerberin in Nürnberg untergebracht ist, nicht abgeschoben wird. Auch will er hier wieder eine eigene Firma aufbauen.

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Ricarda Quass lässt ihm diese Träume. "Ich kenne jedoch von anderen Flüchtlingen die Ernüchterung, wenn sie merken, dass sie nicht so einfach dort anknüpfen können, wo sie in der Heimat aufgehört haben", sagt sie. Vorerst aber zähle für Abdul Halim sowieso nur eines: Der verlorene Sohn ist wieder da.

© SZ vom 18.02. - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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