Autofahren in Istanbul:Bloß nicht bremsen

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"Hier kaufen sich die Leute erst das Auto, dann den Führerschein": In Istanbul gelten de facto auf den Straßen andere Regeln - nämlich keine. Das ist lebensgefährlich.

Kai Strittmatter

Autofahren in Istanbul. "Ist wie als Akrobat in einem Zirkus zu arbeiten" (so der Ratgeber "MyMerhaba"). "Vermeiden Sie es!" (City Guide Istanbul). "Vergessen Sie deutsche Verkehrsregeln" (Türkeiteam.de). Vergessen Sie überhaupt alle Regeln. Oder? "Genau, Bruder, manchmal denk' ich, ich bin der einzige, der sich daran hält", sagt neulich unser Taxifahrer. Kennt er sie denn?

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Er richtet sich auf: "Bruder, natürlich!" Und zur Bekräftigung: "Wenn ich eine rote Ampel sehe, halte ich." Das ist schon mal nicht schlecht. In dieser Stadt kann man ansonsten sicher sein, sich den Zorn der anderen Fahrer einzufangen mit: a) Bremsen am Zebrastreifen, b) Bremsen überhaupt, c) Halten an bestimmten roten Ampeln, die im kollektiven Bewusstsein der Istanbuler Autofahrer bloß Straßenschmuck, auf keinen Fall aber Teil irgendeines Regelwerks sind. Woran man die Schmuckampeln von den ernst zu nehmenden unterscheidet, ist zumindest für Zugezogene nicht klar zu erkennen.

Klar aber ist seit dieser Woche, warum die Istanbuler so fahren: weil die Fahrschulen sie oft schon nach zwei oder drei Fahrstunden auf die Straßen schicken statt nach den vorgeschriebenen 20. Die Zeitung Zaman druckte Geständnisse türkischer Fahrlehrer. "Es ist die Konkurrenz", klagt Musa Ayan vom Verein der Fahrschulen: So koste der Schein nur 200 Lira statt 700, was umgerechnet 360 Euro sind. Staatliche Kontrolle? Fehlanzeige. Und die Prüfung?

"Es gibt buchstäblich niemanden, der durchfällt. Wer seinen Namen schreiben kann und keine sichtbaren geistigen Störungen hat, kriegt den Schein", sagt ein Istanbuler Führerscheinbesitzer, der anonym bleiben möchte: "Hier kaufen sich die Leute sowieso erst das Auto und dann den Führerschein."

4300 Verkehrstote gab es 2009 in der Türkei - 4467 im fast gleich großen Deutschland. Entwarnung also?

Nein: In Deutschland sind 50 Millionen Fahrzeuge unterwegs - in der Türkei nicht einmal ein Drittel.

© SZ vom 19.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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