Koranauslegung:Können Muslime gleichzeitig modern und authentisch sein?

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Die absolute Mehrheit der Muslime lebt ihre Religion zeitgemäß reformiert: Straßenszene aus der marokkanischen Großstadt Marrakesch. (Foto: imago stock&people)

Natürlich. Man kann den Koran im Sinne der Demokratie deuten - und im Sinne der Gleichberechtigung. Wenn man dafür streitet.

Gastbeitrag von Katajun Amirpur

Der Islam braucht eine Aufklärung, heißt es. Oder: Der Islam braucht eine Reformation. Gesucht wird dann der muslimische Luther, zuweilen scheint er sogar gesichtet worden zu sein. Dem Iraner Abdolkarim Soroush, dem Türken Yaşar Nuri Öztürk und dem Schweizer Tariq Ramadan wurde dieser Titel in den vergangenen Jahren schon angeheftet.

Ebenso reflexhaft wie diese Forderungen aufkommen, werden sie von Muslimen und ihnen wohl gesonnenen Islamwissenschaftlern abgelehnt. Dabei bestehen sie schon lange auch in den eigenen Reihen. In den Siebzigern erhob sie der Iraner Ali Schariati, der - ganz im Sinne Luthers - die Rückkehr zur Schrift wollte, sola scriptura. Allerdings wurde er so zum Begründer des islamischen Fundamentalismus in Iran, denn nichts ist im Islam eigentlich "allein durch die Schrift". Schon diese Wendung zeigt, dass man vorsichtig sein sollte mit der Übertragung von Konzepten. Protestantisierung taugt nicht für den Islam.

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Nichtsdestotrotz gibt es viele zeitgenössische muslimische Intellektuelle, die für ein neues Islamverständnis plädieren und dieses theologisch aus den islamischen Quellen begründen, vornehmlich aus dem Koran. Ihr Ziel ist eine Lesart des Islams, die mit den Menschenrechten und der Demokratie zu vereinbaren ist, die Rechtsstaatlichkeit als hohes Gut betrachtet und die Würde des Menschen als unantastbar.

Dem Islam droht eine Spaltung

Dies könnte man in der Tat einen liberalen Islam nennen oder Reform-Islam, doch sind diese Bezeichnungen unter Muslimen umstritten. Auf einer Fachkonferenz in Berlin hatte schon 2005 der aus Südafrika stammende Amerikaner Ebrahim Moosa als Alternative den Begriff "kritischer Traditionalismus" vorgeschlagen. Der ägyptische Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid hatte für die Formulierung "muslimische Reformdiskurse" plädiert, während der aus dem Sudan stammende und in den USA lehrende Rechtswissenschaftler Abdullahi An-Na'im den Terminus "progressives Denken" verteidigt hatte, dann aber für sein Buch den Titel "Toward an Islamic Reformation" wählte.

Man kann viel zu Sinn und Unsinn dieser Bezeichnungen sagen, über die Ab- und Ausgrenzung, die sie mit sich bringen, über die Herkunft aus anderen Kontexten. Man kann über das Problem des Fortschritts an sich sinnieren ebenso wie über das Fragwürdige der Reform. So hat gerade die dem Reformbegriff innewohnende Idee der Verbesserung dazu geführt, dass viele das Wort für den Islam prinzipiell ablehnen: Der Islam sei bereits vollkommen, lautet ihr Argument.

Islamische Verbände sehen zudem in der Idee des Reform-Islams den Versuch der Einmischung in innerislamische Angelegenheiten. In einer Stellungnahme des Zentralrats der Muslime heißt es: "Dem Islam droht die Gefahr, aufgrund des politischen und staatlichen Drucks gespalten zu werden in zwei 'Konfessionen': den Islam und den Reform-Islam."

Statt um Begriffe sollte es jedoch eher um Inhalte gehen. Um die Notwendigkeit, sich Problemen zu stellen. Einige vorherrschende muslimische Positionen zu Toleranz, Recht, Gleichberechtigung und Meinungsfreiheit sind mit den Prinzipien des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates nicht vereinbar.

Dabei plädierten bereits im 19. Jahrhundert Jamal ad-Din al-Afghani und Muhammad Abduh, die heute als die Gründungsväter des islamischen Reformismus gelten, für ein Umdenken, das eine Vereinbarkeit hätte möglich machen können. Für sie hatte die Rückständigkeit der islamischen Welt ihre Ursache in einem statischen Islamverständnis und der blinden Nachahmung der Vorväter. Deshalb forderten sie eine den veränderten Umständen angepasste Interpretation des Korans. Dieser Ansatz hat heute noch Bestand.

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Das Gleiche gilt für die Frage, die eine angepasste Interpretation des Korans beantworten soll: Wie kann ein Muslim heute gleichzeitig modern und authentisch sein? Eine Anwort darauf versucht der Iraner Mohsen Kadivar, der derzeit Gast am Berliner Wissenschaftskolleg ist. Kadivar ist ausgebildeter schiitischer Geistlicher. Dass er den Koran kennt und sein Spezialgebiet, das islamische Recht, beherrscht, stellen auch seine Gegner nicht in Abrede. Diese Ausbildung verschafft Kadivar die notwendige Legitimation im islamischen Diskurs. 1978/79 ging er für die islamischen Revolution in Iran auf die Barrikaden. Heute klassifiziert ihn seine Hauptthese als "Post-Islamisten". Anders als die Islamisten, die die Verschmelzung von Staat und Religion anstreben, geht er davon aus, dass die Menschen zwar erwarten, dass ihnen die Religion Prinzipien und Werte an die Hand gibt. Die praktischen Angelegenheiten aber gehören in den Bereich der sogenannten menschlichen Erfahrungen, eine Formulierung, die ein Code sein dürfte für säkulare Normen. Von der Auffassung des Staatsgründers Ayatollah Khomeini hat er sich damit denkbar weit entfernt.

Ursache für diesen Wandel mag der Ansehensverlust gewesen sein, den der Islam erlitten hat durch den real existierenden Islamismus in der iranischen Theokratie. Das brachte auch andere eingeschworene Islamisten zum Umdenken und ließ sie zu herausragenden Reformdenkern werden. Mohammad Schabestari legte aus Protest sogar seinen Turban ab und formuliert pointiert: "Die richtige Frage ist nicht: Sind Islam und Demokratie vereinbar oder nicht? Die Frage ist: Sind die Muslime heute bereit, diese Vereinbarkeit entstehen zu lassen?" Schabestari, der einst die Imam-Ali-Moschee in Hamburg leitete und als Gastdozent der Akademie der Weltreligionen bis heute einen regen Kontakt zur Hansestadt pflegt, hat die Wissenschaft der Hermeneutik in Irans Diskurs über Religion etabliert: Jeder Lesende hat ein Vorverständnis und ein Erkenntnisinteresse, die für das Verstehen des Texts wesentlich sind. Wer den Koran im Sinne der Demokratie deuten will, kann das also auch tun.

Mit diesem modernen Zugang dockt Schabestari durchaus an das klassische Schriftverständnis an: "Der Koran ist eine Schrift, die zwischen zwei Buchdeckeln versteckt ist. Er spricht nicht. Es bedarf eines Übersetzers, und wahrlich: Es sind die Menschen, die ihn zum Sprechen bringen." Mit diesen Worten hatte sich einst bereits Ali, der erste Imam der Schia und vierte Kalif aller Muslime, im 7. Jahrhundert zur Deutbarkeit des Korans geäußert.

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Seit Jahrhunderten wird der Koran interpretiert und kontextualisiert. Die Behauptung, es gebe keinen historisch-kritischen Zugang, ist Unsinn. Das ist durch eine reiche exegetische Literatur belegt. Die islamische Kultur hat die Vielfalt der Interpretation meist als belebend und selbstverständlich, selten als bedrohlich empfunden. Der Anspruch auf alleinige Deutungshoheit ist ein Phänomen der Moderne. Noch vor Jahrzehnten wäre eine Fatwa unvorstellbar gewesen, die einer neu gegründeten Moschee attestiert, sie sei nicht islamisch - wie es nun ägyptische Autoritäten der Berliner Ibn-Rushd-Goethe-Moschee der Anwältin Seyran Ateş vorwarfen.

Neben der Gefahr des Missbrauchs bietet die große Interpretationsfreiheit aber weitreichende Chancen. So gibt es heute viele, die zu einer geschlechtergerechten Interpretation des Korans gelangen. Es liege nicht an der Rechtsquelle, also dem Koran, dass Frauen in einigen islamischen Gesellschaften nur wenig Rechte hätten, sondern am männlichen Monopol auf die Koranauslegung, sagen sie. Frauen machen Männern deshalb heute dieses Monopol streitig und versuchen, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.

Ziba Mir-Hosseini beispielsweise: Als ihr Mann ihr die Scheidung unter Berufung auf das islamische Recht verweigerte, fand sie unfreiwillig das Thema, das sie in den nächsten Jahren nicht nur persönlich, sondern auch wissenschaftlich beschäftigen sollte. Fast fünf Jahre lang stritt sie vor einem iranischen Gericht für ihre Scheidung und hatte schließlich Erfolg. Sie überzeugte die Richter, dass eine Scheidung ihr islamisch verbrieftes Recht sei, schlug das Rechtssystem also mit seiner eigenen Waffe: mit dem Islam, den das iranische Rechtssystem gegen die Frauen instrumentalisiert.

Dieses Potenzial des Islams sehen auch jene, die eher unter säkularen Vorzeichen für einen Wandel kämpfen. Nawal El Saadawi, die Grande Dame des ägyptischen Feminismus, sagt: "So etwas wie eine beständige Religion gibt es nicht. Sie wandelt sich mit den politischen Umständen und auch durch die Neuinterpretation der Verse. Das gilt doch für alle Religionen, für das Judentum, das Christentum, den Islam. Nehmen wir diese Bewegung in Europa und den USA, die sich Befreiungstheologie nennt. Sie interpretiert die Bibel neu, sagt beispielsweise, Jesus war eine schwarze Frau. Und genauso gibt es in der islamischen Welt Strömungen, die den Islam liberal und aufklärerisch deuten."

Der Prophet selbst behandelte seine Frauen emanzipiert

Auch Saadawi nutzt die islamischen Quellen als argumentative Ressource: Sie hat über die großen Frauengestalten der frühislamischen Geschichte geschrieben. Khadija etwa war eine einflussreiche Händlerin, die selbstbewusst genug war, Muhammad einen Heiratsantrag zu machen. Und Aisha, eine seiner späteren Frauen, zog auf einem Kamel reitend in den Kampf, wo Frauen heute das Autofahren verboten ist: in Saudi-Arabien. Saadawi beschreibt auch, wie gut der Prophet, an dem sich alle Muslime ein Beispiel nehmen sollten, seine Frauen behandelte. Sie hatten ihm gegenüber das Recht, ihn zu rügen und auf seine Fehler aufmerksam zu machen. Sie widersprachen ihm und lehnten sich gegen ihn auf. "Was die Haltung gegenüber Frauen anbelangt, so traten die Nachfolger Muhammads nicht in seine Fußstapfen", stellt Saadawi trocken fest.

Sogar mancher muslimische Mann wirkt im Sinne des Feminismus: Der Südafrikaner Farid Esack argumentiert gleichfalls innerislamisch, wenn er das Rechtsprinzip Maqasid ash-sharia, die Ziele der Religion, anwendet und erklärt: Gemessen an den vorislamischen Verhältnissen auf der Arabischen Halbinsel habe der Koran die Situation der Frauen, etwa im Erbrecht, verbessert. Doch was der Koran hinsichtlich der Frauen festlegt, sei nicht als Schlusspunkt, als letztendliches Ziel der Religion zu verstehen. Archaische Gebräuche der Stammesgesellschaft, die Frauen und Sklaven nicht die gleichen Rechte zuerkannten wie freien Männern, seien nur deshalb nicht sofort verändert worden, weil die Gesellschaft dies damals nicht geduldet hätte. Aufgabe der Muslime heute sei es, die vom Koran auf den Weg gebrachte Reform fortzusetzen. Dann werde man im Geiste des Korans, nämlich im Geiste von Gerechtigkeit und Pluralismus, handeln.

Esack legt den Finger in viele Wunden, wenn er auf die Stellen hinweist, in denen der Koran ausgrenzt: Juden, Andersgläubige insgesamt, Frauen. In seinem eigenen Reformvorhaben distanziert er sich dabei von den Ansätzen vieler seiner Mitstreiter: Es führe zu nichts, sich mithilfe einer historischen Lesart einen ethisch akzeptablen Koran zu konstruieren, so Esack.

Viele islamische Intellektuelle sind überzeugt, dass Reform vonnöten ist

Man müsse stattdessen die dem Text eingeschriebenen Machtansprüche als solche wahrnehmen: "Ich habe immer argumentiert, dass der Koran ein historisches Dokument ist. Seine Sprache ist eine menschliche Sprache, sein Kontext ein menschlicher. Er wurde einem Propheten herabgesandt, der zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Gesellschaft lebte. Davon ausgehend muss man herausfinden, was für diese spezielle Zeit relevant war und was nicht. Und anstatt auf die spezifischen Anweisungen im Koran zu achten, muss man seinen Blick auf die zu Grunde liegenden Prinzipien richten. So würde man im Koran ein Muster entdecken, das auf Emanzipation, Befreiung und Gleichheit hindeutet. Und wenn man dieses Muster anwendet und überträgt, braucht man sich um die spezifischen Vorschriften nicht mehr zu kümmern. Das ist für mich der Wille Gottes in unserer Zeit."

Tatsache ist: Viele islamische Intellektuelle sind überzeugt, dass Reform vonnöten ist. In den islamischen Ländern wie auch in der Diaspora debattieren Muslime über den Islam in der modernen Welt. Sie ringen um eine moderne Interpretation der Quellen und um einen kritischen Zugang zur eigenen Tradition. Sicher geht die Anhängerschaft dieser Reformer nicht in die Millionen. Ganz sicher aber lebt die absolute Mehrheit der Muslime diese moderne Auffassung ohnehin - ohne jede theologische Begründung. Die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie, Islam und Menschenrechten innerislamisch-theologisch herleiten zu können, sei ihm inzwischen gelungen, erzählte Mohammad Schabestari einst. Interessanter sei aber für ihn gewesen, wie sich seine Studenten dazu positioniert hätten. Ob der Islam mit der Demokratie und den Menschenrechten zusammenginge, sei ihnen egal. Aber sie wollten Demokratie und Menschenrechte.

Die Autorin ist Professorin für Islamische Studien an der Universität Hamburg. Zuletzt erschien von ihr "Den Islam neu denken" (Verlag C. H. Beck).

© SZ vom 03.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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