Kirtorf:Ermittlungen wegen versuchter Tötung nach Gestell-Einsturz

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Aktivisten auf einem Dreibeingestell im Dannenröder Wald, während ein Bagger daneben arbeitet. (Foto: Nadine Weigel/dpa/Archivbild)

Nach dem Sturz eines Gestells aus Baumstämmen in Richtung Polizisten im Dannenröder Forst hat die Staatsanwaltschaft Gießen Ermittlungen wegen des Verdachts auf...

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Homberg/Ohm (dpa/lhe) - Nach dem Sturz eines Gestells aus Baumstämmen in Richtung Polizisten im Dannenröder Forst hat die Staatsanwaltschaft Gießen Ermittlungen wegen des Verdachts auf ein versuchtes Tötungsdelikt eingeleitet. Das sagte ein Sprecher der Behörde am Mittwoch. Weitere Details könnten derzeit nicht genannt werden. Zuvor hatte die „Bild“-Zeitung darüber berichtet.

In dem Waldstück, das Umwelt- und Klimaschützer seit mehr als einem Jahr besetzt halten, laufen Räumungs- und Rodungsarbeiten für den umstrittenen Weiterbau der Autobahn 49 in Mittelhessen. Die Polizei ist dort seit dem 10. November täglich mit einem Großaufgebot vor Ort und räumt das Waldstück Schritt für Schritt. Umweltschützer klettern immer wieder meterhoch auf Bäume oder Holzgestelle, von denen die Einsatzkräfte sie wieder herunterholen.

Nach Angaben der Polizei wurden am Mittwoch bei den Protesten 38 Personen in Gewahrsam genommen. Dazu seien fünf Ermittlungs- und 34 Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet sowie 38 Platzverweise ausgesprochen worden. Am Morgen habe es außerdem einen Arbeitsunfall gegeben, bei dem zwei Polizeibeamte verletzt wurden. Während der beginnenden Arbeiten sei ein Baumstamm in Bewegung geraten, der die Einsatzkräfte erfasste. Sie seien in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Die Ermittlungen zur Unfallursache laufen noch.

Aktivisten warfen den Beamten am Mittwoch vor, bei dem Einsatz wiederholt Gewalt angewendet und Menschenleben gefährdet zu haben. Bei einer via Twitter übertragenen Pressekonferenz sagte einer der Redner, er habe erlebt, wie Aktivisten ins Gesicht geschlagen und Menschen ohne Ankündigung, „mit gezücktem Schlagstock“ und unter Drohungen durch den Wald gejagt worden seien.

Ein Polizeisprecher erklärte, „pauschale Gewaltvorwürfe“ weise man zurück. „Wir als Polizei gehen tagtäglich mit größer Sorgfalt vor, auch in der Höhe. Uns ist es sehr wichtig, dass niemand zu Schaden kommt.“ Die Gewerkschaft der Polizei in Hessen (GdP) sprach von einer neuen „Eskalationsstufe“. Beamte würden massiv angegriffen, beschimpft, bespuckt, mit Farb- und Kotbeuteln beworfen. „Wenn die Ausbaugegner Vorwürfe in Richtung der Einsatzkräfte richten, diese hätten im Zusammenhang mit der Räumung von Baumhäusern und Barrikaden in dem Waldstück Gewalt angewendet und Menschenleben gefährdet, ist das nicht mehr hinnehmbar“, sagte der stellvertretende GdP-Landesvorsitzende Jens Mohrherr.

Nach dem Einsturz des Baumstamm-Gestells am Montag war die Polizei von einem gezielten Angriff ausgegangen. Die Beamten hätten im letzten Moment zur Seite springen können und seien so unverletzt geblieben, hieß es. Auch der Fahrer eines Baggers habe nur dank seiner Sicherheitskabine keine Verletzungen davongetragen. „Es besteht der Verdacht, dass ein Seil vorsätzlich gelöst wurde. In diesem Zusammenhang verfolgen wir eine Person, die damit in Verbindung stehen könnte“, hatten die Beamten via Twitter erklärt.

Bei dem Gestell handelte es sich den Angaben zufolge um einen sogenannten Twopod. Auf solchen und ähnlichen Gebilden harren immer wieder Aktivisten aus, um gegen die Rodungsarbeiten in dem Waldgebiet zu protestieren. Zuletzt hatte sich die Lage zugespitzt, nachdem es zu zwei Abstürzen von zwei Aktivistinnen gekommen war. Die beiden Frauen hatten sich dabei schwer verletzt.

Bei der Pressekonferenz sprach eine Aktivistin von einer „Gewaltspirale“. Die derzeitige Situation sei für die Waldbesetzer körperlich und psychisch sehr belastend. „Wenn eine Gewaltspirale entsteht zwischen zwei Seiten, dann muss ein Eingang gefunden werden, wo dieser Teufelskreis gebrochen werden kann“, sagte die Frau und erklärte zugleich: „Dieser Teufelskreis „kann nicht zuerst auf der Seite der Aktivisten gebrochen werden, das haben wir während mehreren Gesprächen festgestellt“.

Die Aktivisten wüssten, „was sie da riskieren“, sagte Johannes Becker vom Marburger Zentrum für Konfliktforschung der Deutschen Presse-Agentur. „Man darf bei all dem nicht außer Acht lassen, dass diese jungen Leute seit über einem Jahr in diesem Wald leben und ihn als ihr Zuhause ansehen. Und man muss verstehen, dass sie sich angesichts des überall spürbaren Klimawandels bedroht fühlen und da wirklich um ihre Zukunft kämpfen.“

Er halte nichts von einem Generalverdacht, sagte er mit Blick auf Schuldzuweisungen - „so kommen wir in der Diskussion nicht weiter“. Der Konfliktforscher, der sich zuvor bereits auf hessenschau.de zu den Protesten gegen die A49 geäußert hatte, sieht Lösungsmöglichkeiten, darunter das Mittel der Mediation: Die Konfliktforschung setze darauf, „dass man die Perspektive der Gegenseite immer - immer - zur Kenntnis nehmen muss und niemals davon ausgehen darf, dass man selber die alleinige Wahrheit hat. Zur Mediation gibt es aber eine Voraussetzung: Dass beide Seiten willens sind, die Perspektive der anderen zur Kenntnis zu nehmen und die eigene Perspektive infrage zu stellen“.

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) forderte am Mittwoch alle Beteiligten in dem A49-Konflikt zum „Innehalten“ auf. „Die Zuspitzung der Auseinandersetzung erfüllt uns mit großer Sorge“, sagte BUND-Vorsitzender Olaf Bandt laut einer Mitteilung. „Wir appellieren an die Landesregierung, die weitere Eskalation im Wald zu stoppen und mit einem unabhängigen Moderator und Dialogbereitschaft auf die Waldbesetzerinnen und Waldbesetzer und die Klimabewegung zuzugehen.“

Mit Blick auf die nun vorliegende schriftliche Begründung eines Urteils des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Sommer erneuerte der BUND seine Forderung, die Rodungen zu stoppen - und gerichtlich festgestellte Mängel des A49-Planfeststellungsbeschlusses zu beheben. Das hessische Verkehrsministerium ging weiterhin davon aus, dass der Beschluss - quasi die Baugenehmigung - gültig ist. Aus der Urteilsbegründung lasse sich nichts Gegenteiliges ableiten.

Gegner lehnen den Weiterbau der A49 aus Klimaschutzgründen ab. Die Befürworter erhoffen sich weniger Verkehrsbelastung und eine bessere Straßenanbindung. Die Autobahn soll einmal Gießen und Kassel direkter miteinander verbinden.

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