Steinschlag:Tonnenschwerer Beton auf Talfahrt

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In der Ortschaft Bondo ereigneten sich im Sommer mehrere Bergstürze und Murgänge, die acht Menschenleben forderten. Weil der Klimawandel die Berge destabilisiert, könnte es in Zukunft häufiger derartige Unglücke geben. (Foto: Aladin Klieber/picture alliance)
  • In der Schweiz haben Wissenschaftler tonnenschwere Betonwürfel ins Tal rollen lassen, um ihr Verhalten und ihre Sturzbahn zu untersuchen.
  • Mit den gesammelten Daten wollen sie den Schutz vor Steinschlägen, Erdrutschen und Murgängen verbessern.
  • Ein Computerprogramm zur Lawinensimulation soll mithilfe des Experiments weiterentwickelt werden.

Von Martin Läubli

Es ist 10.45 Uhr, ein kühler, wolkenfreier Morgen an der Flüela-Passstrasse in der Schweiz, als die Stimme aus dem Funkgerät mit dem Countdown beginnt. Drei, zwei, eins, null. Der Blick schweift nach oben in Richtung Flüela Wisshorn. Am steilen Hang auf knapp 2300 Metern über dem Meer löst sich langsam ein orangefarbenes Objekt von einer Rampe und kommt an der sonnenbeschienenen Südflanke allmählich ins Rollen. Schneller, immer schneller, ein ordentlicher Brocken.

Unten auf der Passstraße warten seit einer halben Stunde 300 Fachleute aus aller Herren Ländern und bestaunen das Schauspiel. Österreicher, Mexikaner, Chilenen, Indonesier, Amerikaner, Australier. Das Schweizer Unternehmen für Schutzsysteme Geobrugg AG hatte die Fachleute auf den Flüela zum Steinschlag-Experiment des Instituts für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos chauffieren lassen. Kameras verschiedener Fernsehanstalten sind postiert.

Naturgefahren sind seit der Katastrophe im bündnerischen Bondo auch jenseits der Schweizer Grenze ein Thema. Dort ereignete sich am 23. August ein Bergsturz, bei dem etwa drei Millionen Kubikmeter Material aus der Flanke eines Berges brachen. Das Geröll raste mit einer Geschwindigkeit von bis zu 250 Kilometern pro Stunde gen Tal und löste einen Murgang aus, der in Richtung des Dorfes Bondo rutschte. Acht Menschen kamen bei dem Ereignis ums Leben.

Die Simulation ist ein wichtiges Werkzeug zur Erstellung von Gefahrenkarten

In den Wochen nach dem Bergsturz löste sich in der Gegend um das Dorf immer wieder Felsmaterial aus dem Gebirge. Und in Zukunft könnten solche Ereignisse womöglich häufiger eintreten, die Erderwärmung destabilisiert die Alpen. Versuche wie jener am Flüelapass dienen dazu, geeignete Schutzmaßnahmen für die teilweise dicht besiedelten Regionen in den Bergen zu entwickeln.

Über Lautsprecher erklärt Perry Bartelt, dass in diesem Moment ein 820 Kilogramm schwerer, würfelförmiger Betonklotz talwärts rollt. Für den SLF-Forscher ist es ein großer Augenblick. Er und sein Team sind zuständig für die Entwicklung des Computerprogramms Ramms. Die Software hat sich bewährt, um Lawinenniedergänge zu simulieren. In den vergangenen Jahren wurde sie weiterentwickelt, um auch Murgänge, Erdrutsche und Steinschläge möglichst real abbilden zu können. Versuche wie am Flüela sind hilfreich, um das Computerprogramm zu optimieren. "Wir brauchen dazu aber noch viel mehr Daten", sagt Bartelt. Die rollenden Steine sollen diese liefern.

Die Simulation ist bereits heute ein wichtiges Werkzeug für Ingenieurbüros und Behörden, wenn es darum geht, heikle Zonen auf Gefahrenkarten zu beurteilen oder das Risiko beim Bau einer Brücke in einem steilen Tal abzuschätzen. Die Nachfrage nach der Simulation ist nicht nur in der Schweiz groß, sondern laut SLF auch in anderen Alpenländern und in Norwegen. Je näher die Wirklichkeit im Modell abgebildet wird, desto besser und kostengünstiger werden die Schutzvorrichtungen sein.

Klimawandel
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Der Versuchshang ist 40 Grad steil. Der Betonklotz hat inzwischen den ersten Felsvorsprung erreicht, macht einen riesigen Sprung in die Tiefe, schlägt in den weichen Moorboden ein und rollt weiter. Etwa 23 Sekunden ist der Brocken auf der 300 Meter langen Versuchsstrecke unterwegs, dann wird er unten im Tal vom Geröll gestoppt.

Die Versuchsanordnung ist einfach. Die Sturzbahn des Körpers zu messen, verlangt hingegen viel Hightech. Vor dem Experiment wurde mithilfe von hochaufgelösten Bildern das Gelände im Bereich von Zentimetern ausgemessen. Jede Unebenheit gibt dem Stein schließlich eine neue Wendung. Der Brocken beginnt zu springen, er rollt oder gleitet.

Die SLF-Forscher verwenden keine Natursteine, sondern würfelähnliche Betonklötze mit unterschiedlichem Gewicht. Der leichteste Betonbrocken wiegt 44, der schwerste 840 Kilogramm. Künstliche Steine können im Gegensatz zu Natursteinen miteinander verglichen werden. Zwei Kameras, die alle drei Sekunden ein Bild schießen, verfolgen den Sturz aus verschiedenen Blickwinkeln. Aus den so gesammelten Daten lässt sich die Sturzbahn dreidimensional darstellen.

Das Herzstück der Messungen sind aber die Sensoren, die - so groß wie eine Zigarettenschachtel - im Betonwürfel verpackt sind. Immerhin messen sie Beschleunigungen von bis zu 400-facher Erdbeschleunigung (ein Kunstflieger ist einer 10-fachen Erdbeschleunigung ausgesetzt) und Rotationen des Betonkörpers von bis zu elf Umdrehungen pro Sekunde. Das SLF hat die Sensorik zusammen mit der ETH Zürich entwickelt. Neu ist dabei ein hochsensibles Barometer, mit dessen Daten die Sprunghöhe ermittelt werden soll. "Noch wissen wir nicht, ob das wirklich funktioniert", sagt Perry Bartelt.

Zwölf Mal fliegt der Helikopter an diesem Tag, bringt die herabgestürzten Steine immer wieder zurück in die Höhe. Bereits nach drei bis vier Durchgängen sind sie durch die Aufschläge arg angegriffen. Die Würfelecken runden langsam ab. Die Klötze rollen nun mehr, springen weniger. Eine Entwicklung, die auch bei Natursteinen passieren kann. Der Gneis aus dem Gebiet zum Beispiel würde beim Sturz vermutlich auseinanderbrechen, sagt Bartelt. Das Simulationsprogramm ist jedoch heute schon fähig, mit verschiedenen Gesteinsarten zu rechnen.

Dennoch braucht es laut den SLF-Forschern noch zahlreiche Feldversuche wie jenen am Flüelapass, um die Simulationen zu verbessern. So planen die Wissenschaftler im November das nächste, gleich angeordnete Experiment in einem Waldgebiet. Die Daten sollen künftig Auskunft geben, wie ein Schutzwald beschaffen sein muss, um möglichst optimal vor einem Steinschlag zu schützen.

Durch die Erderwärmung könnte es in den kommenden Jahrzehnten vermehrt zu Steinschlägen kommen

Ob sich Steinschlag und Felsstürze in den nächsten Jahrzehnten in den Alpen tatsächlich häufen werden, ist noch ungewiss. Sicher ist aber: Jahrtausendelang hielten Eisschichten in den Klüften den Fels zusammen, Gletscher stützten steile Hänge. Doch seit einigen Jahren setzt die Erderwärmung dem Eis zu. Es taut und schmilzt. Viele zerklüftete Felsen der Alpen werden instabil. Das jüngste Beispiel in Bondo war nur ein Vorgeschmack. Solche Ereignisse können häufiger werden, falls die durchschnittliche Jahrestemperatur in den Alpen weiter steigt.

Möglicherweise muss man mancherorts in Zukunft die gefährdeten Zonen der heutigen Gefahrenkarten neu beurteilen. "Das Simulationsprogramm kann dafür hilfreich sein", sagt Andrin Caviezel, der Projektleiter des Versuchs. Zumal immer mehr Wanderer und Berggänger in den Alpen Erholung suchen.

Die 300 Fachleute jedenfalls wissen seit gestern nicht nur, wie Steine an steilen Hängen ins Rollen und Springen kommen und mit über 100 Kilometer pro Stunde in die Tiefe stürzen. Am Montag demonstrierte die Geobrugg AG in Walenstadt, dass es auch entsprechende Steinschlagschutznetze gibt. Ein Produkt der Schweizer Firma fing aus 42 Meter Höhe einen Betonblock von 25 Tonnen auf. Weltrekord.

© SZ vom 23.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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