Statistik:"Kopf oder Zahl" ist nicht fair

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Im Fußball gehören Münzwürfe seit Jahrzehnten dazu - hier bei einem Spiel zwischen Borussia Dortmund und dem FC Schalke 04 im Februar 1971. (Foto: imago sportfotodienst)

Von wegen purer Zufall: Exakt 350 757 Mal haben Mathematiker Münzen geworfen - und Erstaunliches festgestellt.

Von Andreas Jäger

Der Münzwurf gilt als Inbegriff eines Zufallsereignisses: Es gibt zwei mögliche Ergebnisse, Kopf und Zahl, und beide treten jeweils mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent auf. Dachte man bislang zumindest. Doch dem ist nicht so, es gibt eine Anomalie - und diese kommt nicht etwa durch den seltenen Fall zustande, bei dem eine Münze auf der Kante landet und nicht umfällt. Was eine Gruppe um den niederländischen Mathematiker Eric-Jan Wagenmakers von der University of Amsterdam experimentell gezeigt hat, ist vielmehr: Die Wahrscheinlichkeit, dass die vor dem Münzwurf oben liegende Seite nach der Landung wiederum oben liegt, beträgt nicht genau 50 Prozent, wie man erwarten würde. Sondern sie liegt bei 50,8 Prozent. Zu diesem Ergebnis kommt die Forschergruppe in einem auf dem Preprint-Server Arxiv hochgeladenen Aufsatz.

Dass es sich bei der Abweichung von 0,8 Prozent um keine statistische Schwankung handelt, zeigt sich an der schieren Anzahl an Stichproben. Um das Experiment - den Münzwurf - hinreichend oft zu wiederholen, schnippten 48 Versuchsteilnehmer 46 Münzen unterschiedlicher Währung und Wertigkeit. Zunächst führten fünf Bachelor-Studenten jeweils mindestens 15 000 Münzwürfe durch und notierten das Ergebnis. Anschließend beteiligten sich 35 Freiwillige an zwölfstündigen "coin flipping marathons". Und schließlich folgten weitere Teilnehmer einem Aufruf zum Münzenschnipsen, der über soziale Netzwerke geteilt worden war. Insgesamt wurde 350 757 Mal eine Münze geworfen.

Bei der Analyse zeigte sich zunächst, dass die geworfenen Münzen in etwa gleich häufig auf die eine oder die andere Seite fielen. Bei 175 420 Würfen landeten sie auf der Kopfseite, das entspricht ziemlich genau 50 Prozent - es gab also keinen Hinweis auf einen "heads-tails bias", also darauf, dass die Münzen grundsätzlich bevorzugt auf eine bestimmte Seite fielen, zum Beispiel wegen einer ungleichen Gewichtsverteilung. Einen Einfluss auf das Ergebnis hatte jedoch, welche Seite zu Beginn des Münzwurfs oben lag: Diese Seite liegt mit höherer Wahrscheinlichkeit am Ende des Wurfes wieder oben. Fachleute sprechen vom "same-side bias".

Verantwortlich ist eine Kraft, die auch die Erde eiern lässt

Das Phänomen ist nicht gänzlich unbekannt. Theoretisch vorhergesagt wurde es bereits 2007: Damals entwarf der Stanford-Mathematiker Persi Diaconis zusammen mit der Statistikerin Susan Holmes und dem Mathematiker Richard Montgomery ein Modell, das Münzwürfe im Detail vorhersagen können sollte. Ein Faktor dabei war die sogenannte Präzession. Diese führe dazu, dass die vor einem Wurf oben liegende Seite einer Münze nach dem Wurf mit einer Wahrscheinlichkeit von 51 Prozent wieder oben liege.

Als Präzession wird in der Physik ein Verhalten beschrieben, das man von Kreiseln kennt: Wird ein sich drehender Kreisel leicht geschubst, kippt seine Rotationsachse zur Seite. Solange der Kreisel sich schnell genug dreht, fällt er aber nicht um; stattdessen dreht er sich um die verkippte Rotationsachse, und diese wiederum dreht sich um das Lot. Es ändert sich also die Richtung der Rotationsachse. In der Natur präzedieren die verschiedensten Dinge, nicht zuletzt die Erde. Aber auch die Kernspins in den Molekülen des menschlichen Körpers können zum verkippten Rotieren gebracht werden.

Im Fall des Münzwurfs kommt es zur Präzession, wenn die Münze nicht genau mittig geschnippt wird. Dann eiert sie in der Flugphase, und das führt dazu, dass sie etwas mehr Zeit in der ursprünglichen Ausrichtung verbringt und demzufolge häufiger so landet, wie sie geschnipst wurde. Das Eiern der Münze ist mit bloßem Auge kaum zu sehen - was von Zauberern und Trickbetrügern ausgenutzt wird, die eine Münze so schnipsen können, dass sie sich überhaupt nicht um sich selbst dreht, sondern nur wackelt.

Man habe gezeigt, dass die nach Diaconis, Holmes und Montgomery als "D-H-M-Modell" bezeichnete Annahme zutreffe, schreibt nun die Gruppe um Wagenmakers: Die ermittelten 50,8 Prozent würden gut mit den vom Modell vorhergesagten 51 Prozent übereinstimmen. Diaconis hatte 2007 geschrieben, es brauche mindestens 250 000 Münzwürfe, um das Modell experimentell zu bestätigen. Sich selbst diese Mühe machen wollten er und seine Mitautoren aber offenbar nicht.

Hat der Münzwurf damit als Instrument zur Entscheidung ausgedient? Nicht unbedingt. Das Ergebnis ist zwar verzerrt. Doch um das auszugleichen, können Schiedsrichter beim Fußball einfach verbergen, welche Seite ihrer Münze oben liegt, bevor sie werfen - und bevor die zur Seitenwahl angetretenen Mannschaftskapitäne ihre Wahl treffen. Für die Kapitäne gibt es ohnehin eine weitere Schwierigkeit: Sie müssen damit rechnen, dass ein Schiedsrichter die Münze fängt und auf den Handrücken der anderen Hand klatscht. Danach liegt die Seite oben, die vorher unten lag.

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