Psyche bei Mensch und Tier:Die Melancholie der Insekten

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Depressionen, Gedächtnisschwund, Alzheimer - Psychiater können von Fruchtfliegen und Hamstern eine Menge über Erkrankungen der menschlichen Seele lernen.

Christina Berndt

Die Fliege lernt schnell. Sie kann nicht viel tun. Aber alles, was in ihrer Macht steht, versucht sie, um der schrecklichen Hitze zu entgehen, die ihr immer wieder aus heiterem Himmel die Flügel zu versengen droht.

Sogar Insekten wie Fruchtfliegen können eine Art depressives Verhalten zeigen. (Foto: iStockphoto)

Es ist ein abenteuerliches Experiment, nicht nur für die Fliege. Mit beachtlicher Fingerfertigkeit haben Wissenschaftler im Labor von Martin Heisenberg am Biozentrum der Universität Würzburg die nur 2,5 Millimeter lange Fruchtfliege mittels zweier Metalldrähte im Flug angebunden. Das Tier schwebt durch eine virtuelle Realität, LEDs gaukeln ihm eine Umgebung vor, die es so gar nicht gibt. Über die Metalldrähte messen Sensoren, was die Fliege in dieser künstlichen Welt tut. Viel ist das nicht, denn außer sich ein wenig nach links oder rechts zu drehen, hat die festgebundene Fliege keine Wahl.

Diese Wahl aber ist bedeutend. Denn jedes Mal, wenn die Fliege sich nach rechts wendet, wird es für sie unerträglich heiß. Schnell lernt das Tier, dass es gesünder ist, nach links zu fliegen. Kurze Zeit später dreht es fast nur noch nach links. Selbst wenn die Forscher die Hitzepulse längst eingestellt haben, erobert es sich nur langsam die rechte Welt zurück.

Das kleine Insekt ist im Dienste der psychologischen Forschung unterwegs. Dass nicht nur Genetiker und Entwicklungsbiologen von vermeintlich seelenlosen Wesen lernen wollen, sondern auch Psychiater und Psychologen, überrascht beim ersten Vernehmen. Doch Forscher konnten nicht nur an Säugetieren, sondern auch an Fruchtfliegen und Zebrafischen erstaunliche Parallelen zu psychischen Störungen des Menschen aufzeigen, wie sie nun während einer Tagung im Münchner Klinikum rechts der Isar berichteten.

Schon das kleinste dieser Tiere, die Fruchtfliege mit ihrem winzigen Gehirn, könne uns Menschen etwas über unser eigenes Gehirn verraten, meint Martin Heisenberg - sogar über so bedeutende Kategorien wie Lernen, Bewusstsein und Depression. Tatsächlich erscheinen die Fliegen mitunter deprimiert. Zum Beispiel, wenn Heisenberg sie genügend frustriert hat. Sie verfallen dann in eine Art Lethargie, ähnlich wie Menschen, wenn sie sich als Spielball des Schicksals fühlen und ihre eigenen Entscheidungen als irrelevant für den Fortgang ihres Lebens empfinden.

Heisenberg hat Fliegen in einem winzigen Kasten laufen lassen, dessen Boden ab und zu unangenehm heiß wurde. Wenn die Fliegen loskrabbelten, wurde der Boden wieder kühl. Eine zweite Gruppe Fliegen aber konnte an der Hitze nichts ändern. Diese trat auf und verging wieder - gleichgültig, was die Tiere dagegen zu unternehmen versuchten. Diese zweite Gruppe von Fliegen, die unterdrückten Exemplare, bemühte sich in einem Folgeexperiment gar nicht mehr, der unangenehmen Hitze zu entgehen. Dabei wäre es diesmal leicht möglich gewesen; sie hätten nur auf die andere Seite der Kammer hinüberlaufen müssen. Offenbar empfanden sie ihre Lage aber als aussichtslos und hatten jeden Antrieb verloren, ihre Situation zu verbessern.

Die Insekten verhalten sich wie geprügelte Hunde, möchte man meinen. Und so ist es auch: Heisenbergs Fliegen-Experiment stammt ursprünglich aus den 1960er Jahren. Damals haben die Psychologen Martin Seligman und Steven Maier in den USA Hunde mit Elektroschocks traktiert. Auch hier versuchten jene Tiere, die im ersten Versuchsteil keinen Einfluss auf ihr Schicksal hatten, im zweiten Teil nicht mehr, den Stößen zu entkommen, und blieben oft lethargisch in ihrer Box liegen. Von "learned helplessness" sprechen Psychologen, von erlernter Hilflosigkeit. Sie gilt bis heute als Modell für Depressionen.

Dass auch Insekten solch depressives Verhalten zeigen, überrascht Kenner nicht. Schon in den 1970er Jahren nämlich wurden die Experimente von Seligman und Maier auch mit durch und durch hirnlosen Entitäten vorgenommen mit ausgerissenen Beinen von Küchenschaben. Selbst die reagierten nicht mehr auf einen Elektroreiz, wenn das nichts half. "Man braucht offenbar kein Gehirn, um deprimiert zu sein", folgert Hans Förstl, Leiter des Psychiatrischen Klinik an der TU München.

Ob das Verhalten der Fliegen wirklich etwas mit Depressionen zu tun hat? Das fragt sich auch Martin Heisenberg. "Wir wissen zum Beispiel noch nicht, ob diese Tiere auch weniger aktiv sind als die anderen Tiere oder ob sie weniger Lust haben, sich zu paaren", sagt er. Auffällig sei, dass weibliche Fliegen häufiger betroffen sind als männliche, wie dies auch für Menschen mit Depressionen gilt.

Wie vergleichbar die erlernte Hilflosigkeit der Fliegen und die Depressionen der Menschen auch immer sind: Für Medikamententests reicht es offenbar. Die Fliegen lassen sich mit Psychopharmaka therapieren. Ein paar Mikrogramm Citalopram, ein bisschen 5-HTP oder auch das in den USA längst als Psychopille gegen jede Unbill des Alltags verwendete Prozac helfen den Tieren, wieder besser draufzukommen. Ihre Deprimiertheit ist dann wie verflogen, sie retten sich genauso erfolgreich wie ihre unvoreingenommenen Verwandten vor der Hitze.

Zahlreiche Versuche belegen inzwischen, dass Fliegen nicht nur Reflexe haben. Sie sind auch zu operantem Lernen fähig, zum Lernen am Erfolg. Dies verdeutlicht zum Beispiel das Experiment mit Links-Flug bei Hitze, den sich die Fliege auch wieder abgewöhnen kann. "Wenn man sich aber im Leben durch Ausprobieren fortentwickelt, wie auch wir Menschen das tun, dann braucht man offenbar einen Notschalter, der einen davon abhält, unaufhörlich weiterzuprobieren", sagt Heisenberg. "Womöglich ist dieser Notschalter die Grundlage für Depressionen beim Menschen."

Die Experimente vermitteln nach Ansicht von Michael Hufnagl eine wichtige Erkenntnis: "Unvorhersagbarkeit fördert das Gedächtnis", sagt der Neuropsychologe vom Münchner Krankenhaus Bogenhausen. "Die meisten Menschen denken, Gedächtnis habe etwas mit Vergangenheit zu tun. Es hat aber etwas mit Zukunft zu tun." Gedächtnis diene der Gestaltung der Zukunft. "Je spannender diese ist, desto besser ist die Erinnerungsleistung. Depressive Patienten denken hingegen, sie hätten keine Zukunft."

Natürlich müsse man vorsichtig sein mit der Interpretation von Ergebnissen, die man an Tieren gewonnen habe, betont der Demenzforscher Christian Haass von der Universität München. "Mäuse mit Gedächtnisschwund konnten wir schon hervorragend heilen." Die Mäuse fanden dann eine Plattform in einem Bassin wieder, auf die sich die wasserscheuen Tiere retteten. Wo diese Plattform war, hatten die kranken Tiere vergessen.

"Beim Menschen taugten die gleichen Arzneien leider nichts", so Haass. Trotzdem lasse sich von den Tieren viel über Geist und Psyche lernen. Unter einer Voraussetzung: "Man muss für jede Fragestellung das richtige Tier wählen." Der Zebrafisch zum Beispiel hat in Haass' Labor versagt, wenn es um Gedächtnistests ging, obwohl Fische an sich ein gutes Erinnerungsvermögen haben. Wenn aber physiologische Vorgänge betrachtet werden, dann tauge auch der Zebrafisch zur Demenz-Forschung. Bei Fischen mit Merkmalen von Alzheimer verkürzen sich nämlich die Fortsätze von Nervenzellen ähnlich wie bei kranken Menschen.

Es gibt sogar erstaunliche Parallelen zwischen Psychiatriepatienten und Hamstern, die aus dem Winterschlaf erwachen. Hamster seien oft verwirrt, wenn sie ihren Winterschlaf beendet haben, berichtet Thomas Arendt von der Universität Leipzig: "Sie erinnern sich oft nicht mehr an Nahrungsquellen und auch nicht an ihre Partner."

Es gibt erstaunliche Parallelen zwischen Psychiatriepatienten und Hamstern, die aus dem Winterschlaf erwachen. (Foto: Rolf Haid/dpa)

Das zeigt sich, wenn die Hamster in einer Box mit zwei Ausgängen laufen. Sie lernen dort mit der Zeit, dass ihr Futter hinter dem Ausgang liegt, aus dem es nach Rosen und nicht nach Zitrus duftet. In neun von zehn Versuchen nehmen trainierte Hamster den richtigen Weg. Nach einem mehrwöchigen Winterschlaf aber haben die Tiere das Gelernte vergessen. "Sie fangen wieder ganz von vorne an", sagt Arendt. Die Chance, dass sie den richtigen Ausgang erwischen, ist nur noch fifty-fifty. Hamster ohne Winterschlaf nehmen dagegen auch nach Wochen noch in sieben von zehn Fällen die richtige Tür.

Die Vergesslichkeit der Hamster ist vielleicht gar nicht so überraschend, wenn man bedenkt, dass der Hirnstoffwechsel während des Winterschlafs drastisch heruntergefahren wird. "Auch bei Alzheimer oder Depressionen findet man einen verminderten Zuckerumsatz im Gehirn", sagt Arendt. Weitere Ähnlichkeiten tun sich auf: So verkürzen sich im Winterschlaf die Ausläufer von Nervenzellen; und ein Hirnprotein namens Tau wird chemisch genau so verändert, wie es für Alzheimer charakteristisch ist. Das Phänomenale bei den Hamstern aber ist: "All diese Prozesse sind hochgradig reversibel", sagt Arendt. "Und zwar binnen Stunden." Er hofft, dies eines Tages medizinisch nutzen zu können.

Eine Klasse von Tieren aber tauge gar nicht zur psychiatrischen Forschung - oder höchstens als Gegenbeispiel, sagt der Ornithologe Josef Reichholf. Vögel neigten kaum zu psychisch auffälligem Verhalten. Selbst in Gefangenschaft entwickelten sie selten Phobien, Depressionen oder Bewegungsstörungen, sofern die Haltung nicht tierquälerisch sei.

Womöglich liegt das am draufgängerischen Wesen des Federviehs. Vögel stecken nicht ein. Statt in Angststarre zu verfallen, greifen sie an - egal, wie überlegen ihr Gegner ist. So verwickeln Krähen Bussarde in einen Luftkampf, bis diese abziehen. "Und selbst Singvögel attackieren Eulen und Greifvögel, um sie zu vertreiben", sagt Reichholf. Er erzählt von Wacholderdrosseln, die Greifvögel mit Kot vollspritzen: "Am Ende sitzt der Bussard völlig verkotet und flugunfähig am Boden. Er gibt ein wirklich jämmerliches Bild ab."

© SZ vom 16.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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