Wer in diesen Tagen einen Abend im brandenburgischen Oderbruch verbringt, vergisst das Insektensterben schnell. Libellen, Hornissen und Bienen schwirren durch die Sommerluft. Käfer krabbeln durchs Gras, Schmetterlinge flattern. Mücken treiben einen in den Wahnsinn. Vom Massentod der Kerbtiere scheinbar keine Spur.
Und doch, er passiert. Das Artensterben am unteren Ende der Nahrungskette schreitet mit einer Geschwindigkeit voran, die nun auch die Wissenschaft auf den Plan treten lässt. In einem am Mittwoch veröffentlichten, fast 70 Seiten umfassenden Diskussionspapier fordert eine Kommission der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina die Bundesregierung zum Handeln auf. Unter dem Titel "Der stumme Frühling: Zur Notwendigkeit eines umweltverträglichen Pflanzenschutzes" beschreiben hochrangige Agrarwissenschaftler, Biologen und Toxikologen den Zustand der Biodiversität und die Auswirkungen des Pestizideinsatzes in der deutschen Landwirtschaft als nachweislich verheerend. Sie schildern aber auch mögliche Ansatzpunkte, um der gegenwärtigen Entwicklung Einhalt zu gebieten.
"Durch die massive Reduktion von Biomasse, Mikrohabitatstrukturen und Nahrungsressourcen sind nicht nur Insekten, sondern auch Konsumenten der Insekten wie Kleinsäuger und Vögel betroffen", heißt es im Papier. Der Pestizideinsatz habe einen Punkt erreicht, an dem "wichtige Ökosystemfunktionen und Lebensgrundlagen ernsthaft in Gefahr sind". Es sei daher unabdingbar, lange akzeptierte Dogmen und Praktiken kritisch zu hinterfragen.
"Etliche Aspekte" von Pestiziden werden bei der Zulassung nicht ausreichend berücksichtigt
Eine dieser akzeptierten Praktiken steht im Mittelpunkt des aktuellen Diskussionspapiers: Die Experten kritisieren die lückenhaften Zulassungsvoraussetzungen für Unkrautvernichter, Pilzmittel und Insektengifte. Die Verfahren hätten in der Vergangenheit bereits zu eklatanten Fehleinschätzungen geführt.
So sind nach Aussage der Experten bis heute Rückstände zahlreicher, bereits in den 1990er-Jahren ausgebrachter Pflanzenschutzmittel in Bodenproben nachweisbar, obwohl dies aufgrund der damaligen Prognosen nicht zu erwarten gewesen wäre. "Sicher, die Zulassungsverfahren sind immer detaillierter geworden", sagt Andreas Schäffer von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule und Leiter der Kommission. "Etliche Aspekte" in der Bewertung von Pestiziden würden aber weiterhin nicht ausreichend berücksichtigt.
Dazu gehört laut dem Experten-Papier insbesondere der Effekt von Wirkstoffen in sogenannten Spritzserien und Tankmischungen. Landwirte nutzen diese Verfahren, um mehrere verschiedene Pestizide auf ein- und dieselbe Fläche auszubringen. Wie die Stoffe sich auf dem Acker gegenseitig in ihrem chemischen Verhalten beeinflussen, ist oft unklar, weil für die Zulassung eines Wirkstoffs in der Regel nur die einzelne Substanz geprüft wird.
In der Praxis müssen die Anwender zwar in sogenannten Spritztagebüchern dokumentieren, welche Wirkstoffe in welchen Situationen zum Einsatz kommen. Nachvollziehen lässt sich eine spätere Belastung durch Kombinationen aber nicht, weil die Informationen dem Betriebsgeheimnis des jeweiligen landwirtschaftlichen Unternehmens unterliegen.
Auch an der Verfügbarkeit dieser und anderer Angaben muss sich nach Auffassung der Kommission dringend etwas ändern. "Die Daten könnten Transparenz in die Frage bringen, wie intensiv die Pflanzenschutzmittelanwendung wirklich ist", sagt Schäffer. Tatsächlich gibt es detaillierte Daten: Aufgrund einer EU-Verordnung müssen die Mitgliedsstaaten offiziell dokumentieren, was ihre landwirtschaftlichen Betriebe an Pestiziden ausbringen. In Deutschland geschieht dies anhand von Musterhöfen, die durch die Bauernverbände der Länder ausgewählt werden.
Die Daten dieser Dokumentation allerdings sind selbst einigen Bundesbehörden wie dem Umweltbundesamt nicht frei zugänglich. Vom zuständigen Julius-Kühn-Institut, das dem Landwirtschaftsministerium unterstellt ist, werden lediglich zusammenfassende Zahlen veröffentlicht.
Ohne die genaue Kenntnis der tatsächlichen Umstände auf den Feldern wird es nach Auffassung der Kommission aber kaum möglich sein, die Anwendung von Pestiziden wie vorgeschrieben zu minimieren. Als Maßnahme halten die Fachleute eine bloße Reduktion ohnehin für unzureichend.
Zusätzlich beschreiben sie in ihrem Diskussionspapier weitere Maßnahmen, die der Zerstörung der Biodiversität entgegenwirken sollen. Dazu gehören Ackerrandstreifen, Schutz von Nichtzielflächen und der gezielte Einsatz natürlicher Feinde, um Schadorganismen einzudämmen.
Punktuelle Maßnahmen genügen nicht mehr
Ein Verbot des Totalherbizids Glyphosat erachten die Experten dagegen für wenig sinnvoll, da "vermutlich alternative Mittel mit ähnlichen Eigenschaften" eingesetzt würden, wie Schäffer erläutert. Überhaupt sei es wenig zielführend, die Problematik mit punktuellen Maßnahmen anzugehen. Laut dem Experten-Papier ist es dringend geboten, den ökologischen Schaden als "systemisches Problem" zu sehen und auch systemisch zu behandeln.
Dass die Bauern für diese Maßnahmen Unterstützung erhalten müssen, ist klar. Neben Subventionen zur gezielten Förderung einer Extensivierung von Landwirtschaft verweisen die Experten auf die Gemeinsamkeit der Verantwortung. "Für die Zukunft ist es sicher wesentlich, den Dialog mit den Bauern zu intensivieren, damit sie sich gerade nicht in der Rolle der bösen Buben wiederfinden", sagt Schäffer.
Inwieweit die Experten mit ihrem Papier etwas bewirken können, bleibt offen. Zwar hat das Kabinett in Berlin vor wenigen Wochen einen "Aktionsplan Insektenschutz" gebilligt, der den Einsatz von Pestiziden einschränken und größere, zusammenhängende Flächen für Wildpflanzen schaffen soll, um Insekten und anderen Tieren einen Rückzug zu bieten. Agrarministerin Julia Klöckner allerdings beschränkt sich in ihrem Ressort weitgehend darauf, eine reduzierte Anwendung des zum Symbol gewordenen Herbizids Glyphosat anzukündigen.