Architektur:Aus der Asche

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Baugerüste werden über Jahre das Bild von Notre-Dame prägen. (Foto: AFP)

Der Brand von Notre-Dame hat die Kathedrale beschädigt, aber auch Geheimnisse freigelegt. Für Forscher bieten sich hier einzigartige Möglichkeiten.

Text: Christa Lesté-Lasserre, Infografik: Chris Bickel

Acht Experten für Restaurierung ziehen Schutzhelme und schwere Stiefel an und betreten die verrußte Halle von Notre-Dame de Paris, der wohl berühmtesten Kathedrale der Welt. Zehn Tage zuvor hatte ein Feuer im Dachboden gelodert, das Dach abgeschmolzen und den Vierungsturm in das Herz dieser heiligen Stätte gestürzt. Jetzt ist es still, bis auf das Flattern der Haussperlinge. Der Raum, der früher nach Weihrauch duftete, riecht nun scharf nach Asche und abgestandenem Rauch. Lichtstrahlen durchschneiden den Raum unter der gewölbten Steindecke, durchdringen die Dunkelheit und bescheinen die Trümmer auf dem Marmorboden.

Und doch sind die Wissenschaftler, die im Auftrag des französischen Kulturministeriums den Schaden untersuchen, eher erleichtert - und sogar hoffnungsvoll. Unbezahlbare Gemälde hängen unbeschädigt an der Wand, und über dem Altar ragt ein großes vergoldetes Kreuz, darunter Jungfrau Maria, die den Leib Jesu wiegt. "Was zählt, ist nicht das Dach und das Gewölbe, sondern das Heiligtum, das sie schützen", sagt Aline Magnien, Direktorin des Forschungslabors für historische Denkmäler LRMH (Le laboratoire de recherche des monuments historiques). "Das Herz von Notre Dame wurde gerettet."

Am 15. April 2019 hatte wahrscheinlich ein Kurzschluss jenen Großbrand ausgelöst, der die 850 Jahre alte Kathedrale niederzubrennen drohte. Dank eines Notfallplans, der für einen solchen Fall entwickelt worden war, wussten die Feuerwehrleute, welche Kunstwerke in welcher Reihenfolge zu retten waren. Sie wussten, dass sie den Wasserdruck niedrig halten mussten und auch keine der Buntglasfenster treffen durften, damit das kalte Wasser das heiße Glas nicht zersplitterte.

Aber obwohl sie das Schlimmste verhindern konnten, war die Katastrophe noch lange nicht vorüber. Mehr als 200 Tonnen giftiges Blei vom Dach und der Turmspitze hatten die Verantwortlichen zunächst nicht beachtet. Auch das empfindliche Kräfteverhältnis zwischen dem Gewölbe und den Strebepfeilern der Kathedrale drohte aus dem Gleichgewicht zu geraten: Das gesamte Gebäude stand vor dem Einsturz.

Am LRMH, dem mit der Erhaltung aller Denkmäler des Landes beauftragten Labor, benutzen Magnien und ihre 22 Kollegen Techniken von der Geologie bis zur Metallurgie, um den Zustand von Stein, Mörtel, Glas, Farbe und Metall Notre-Dames zu bewerten. Sie wollen weiteren Schäden an der Kathedrale vorbeugen und die Ingenieure beim Wiederaufbau unterstützen. Präsident Emmanuel Macron hat fest vor, Notre-Dame bis 2024 wieder zu eröffnen. Dafür hat er eine Milliarde Euro Finanzhilfen zugesagt und einen Militärgeneral ernannt, der die Operation leiten soll.

Und doch leisten die LRMH-Forscher entscheidende Arbeit, um herauszufinden, wie Materialien geborgen und die Kathedrale wieder aufgebaut werden kann. Zugleich nutzen sie diese seltene Gelegenheit auch für die Wissenschaft.

Hier fanden auch die ersten Experimente zur künstlichen Befruchtung von Pferden statt

Denn die durch das Feuer freigelegten Teile der Kathedrale geben Hinweise auf die Geheimnisse ihrer Geschichte. "Dieses Ereignis wird die Forschung noch 40 Jahre lang beschäftigen", sagt Thierry Zimmer, stellvertretender Direktor des LRMH.

Die LRMH-Forscher arbeiten in den ehemaligen Ställen eines Schlosses aus dem 17. Jahrhundert in Champs-sur-Marne in den östlichen Vororten von Paris. Hier haben sie Proben von Frankreichs Top-Denkmälern - dem Eiffelturm, dem Arc de Triomphe - in denselben Räumen analysiert, in denen vor 120 Jahren einige der ersten Experimente zur künstlichen Befruchtung von Pferden durchgeführt wurden. Die Nachbarschaft ist ruhig, eine urige Brasserie und ein Laden, der Haarschnitte für zehn Euro anbietet. Aber an diesem Tag im Januar ist das Labor alles andere als verschlafen. "Es ist ein Ort mit Tempo" sagt Zimmer.

Véronique Vergès-Belmin, Geologin und Leiterin der Steinabteilung des LRMH, hat in der vergangenen Nacht bis 22 Uhr Steine aus Notre-Dame sortiert. Heute Morgen schließt sie als Erste die alte Eichentür des Labors auf. Sie zieht einen Schutzanzug und eine Atemschutzmaske an - beides ist notwendig, wenn man mit Blei kontaminierte Proben untersucht. Im hoch überdachten Lagerhangar des Labors präsentiert sie mehrere Dutzend Steine, die beim Brand von der Gewölbedecke der Kathedrale gefallen sind. Sie erlauben Rückschlüsse auf den Zustand der großen unzugänglichen Bereiche des Mauerwerks im Gebäude. Die Wissenschaftler können es nicht riskieren, das Gewölbedach zu betreten. Und Trümmerstücke, die hinunterfallen, machen die Inspektion vom Boden aus gefährlich. Viele der Proben werden daher von Robotern entnommen.

Hitze kann Kalkstein schwächen. Das Wissen, welche Temperaturen die Steine gerade noch aushalten können, hilft Ingenieuren bei der Entscheidung, ob sie für den Wiederaufbau wiederverwendet werden können. Vergès-Belmin hat festgestellt, dass die Farbe der Steine dazu Hinweise liefert. Bei 300 bis 400 Grad Celsius beginnen Eisenkristalle, die normalerweise den Kalkstein zusammenhalten, aufzubrechen und die Oberfläche der Steine rot zu färben. Bei 600 Grad ändert sich die Farbe erneut, wenn sich die Kristalle in schwarzes Eisenoxid wandeln. Bei 800 Grad wiederum verliert der Kalkstein alle Eisenoxide und wird zu Pulver. "Farbige Steine oder Teile sollten nicht wiederverwendet werden." Farbbewertung sei zwar keine exakte Wissenschaft, sagt sie, aber sie kann nützliche Hinweise liefern.

Philippe Dillmann, ein LRMH-Mitarbeiter und Metallspezialist beim CNRS, der französischen nationalen Forschungsorganisation, glaubt, dass Rost von den Eisenstrukturen der Kathedrale ähnliche Hinweise liefern kann. Bei steigenden Temperaturen ändert sich dessen mikroskopische Struktur. Durch die Untersuchung der Schrauben und Muttern der Kathedrale sowie eines Verkettungsystems von Eisenstangen innerhalb und um die Wände will Dillmann eine Wärmekarte für die nahegelegenen Steine erstellen. Er sagt, es sei nicht bekannt, ob diese Stangen beim Bau verwendet und dann an Ort und Stelle belassen wurden oder ob sie als Verstärkung dienten. "Wir wissen, dass sie dort drin sind, aber sie wurden nie untersucht", sagt er.

Auch Wasser kann Zerstörungen anrichten. Obwohl die Feuerwehrleute die Buntglasfenster beim Löschung sorgfältig mieden, kamen sie nicht umhin, das Steingewölbe zu durchnässen. Der poröse Kalkstein hat durch das Wasser bis zu einem Drittel an Gewicht zugenommen. Im Labor überwachen LRMH-Forscher derzeit einen Stein und wiegen ihn regelmäßig, um den Trocknungsprozess zu verfolgen.

Vor dem Betreten müssen sich alle nackt ausziehen und Papierkleidung anlegen

In der Zwischenzeit fällt weiterhin der Regen durch das dachlose Gewölbe. Die Ingenieure können noch nicht einmal eine vorübergehende Abdeckung installieren, weil ein verstümmeltes Gerüstskelett im Weg steht, das 2018 für langfristige Renovierungsarbeiten eingerichtet wurde. Im Januar begannen Arbeiter, das teilweise geschmolzene Gitter zu entfernen. Da die Wände der Kathedrale das Gerüst tragen, muss es sorgfältig abgebaut werden, um einen Zusammenbruch zu verhindern.

Laut Lise Leroux, Geologin in der LRMH-Steinabteilung, werden die Steine während des Trocknungsprozesses wahrscheinlich weiterhin "nicht zu vernachlässigende" Auswirkungen auf die Gewölbestruktur haben. Das zusätzliche Gewicht durch die Feuchtigkeit spielt mit dem prekären Gleichgewicht der Kräfte. Wenn das Wasser im Winter gefriert, dehnen sich einzelne Steine aus oder ziehen sich zusammen. "Wir testen den Mörtel zwischen den Steinen, um zu sehen, wie gut er mit der Belastung umgeht", sagt sie. "Jetzt, wo ich dort hoch kann."

Wochen nach dem Brand haben die Ingenieure Stahlträger über dem Gewölbe installiert, damit sich die Techniker beim Arbeiten mit Seilen ablassen konnten. Im Februar inspizierte Leroux zum ersten Mal die Oberseite des Gewölbes. Sie stellte fest, dass eine Gipsbeschichtung auf dem Gewölbe noch größtenteils intakt ist, sie hatte viele Steine vor Feuer und jetzt vor Regen geschützt.

Ein weiteres Team kümmert sich um den Verbleib des Bleis vom Dach und dem Vierungsturm. Viele Pariser hatten Angst, dass sich verdampftes Blei in der Nachbarschaft der Kathedrale niederschlägt. Das aber verneinen Wissenschaftler um die Metallurgin Aurélia Azéma, die Leiterin der Metallabteilung des LRMH. Das Feuer habe längst nicht die 1700 Grad Celsius erreicht, bei der Blei verdampft. Der größte Teil des Bleis schmolz wohl einfach bei 300 Grad, floss die Dachrinnen hinunter und hängt jetzt an den Gewölben.

Stellenweise erreichten die Temperaturen jedoch mehr als 600 Grad Celsius. An diesem Punkt oxidiert Blei zu mikroskopisch kleinen Knötchen und kann sich als Aerosol verbreiten - "so wie ein Haarspray", sagt Azéma. Eine gelbe Wolke, die während des Feuers aus der Kathedrale waberte, zeigte, dass zumindest ein Teil des Bleis in die Luft gelangte.

Sophie Ayrault, Geochemikerin bei der französischen Kommission für alternative Energien und Atomenergie, möchte herausfinden, wo diese Wolke gelandet ist. Azéma stellte deshalb Bleistaubproben von zwei Oberflächen sicher, die noch kurz vor dem Brand gereinigt worden waren, der Orgelbank und einem Tuch, das eine Statue bedeckt hatte. Ayrault bestimmte dann die Isotopen-Signatur in dem Blei, eine Art chemischer Fingerabdruck, mit dem sich das Blei aus Notre-Dame von dem aus anderen Quellen unterscheidet.

Sie möchte Staubproben aus der ganzen Stadt vergleichen. Einige der Kathedrale nahegelegene Schulen wurden bereits dekontaminiert, nachdem die Proben bedenklich hohe Bleiwerte aufwiesen. Es ist jedoch nicht klar, ob das Blei aus dem Notre-Dame-Brand stammt oder aus anderen Quellen wie Farben, Autobatterien oder bleihaltigem Benzin.

Ayrault vermutet, dass auch die jahrhundertelange Korrosion durch Sonnenlicht und sauren Regen Blei aus dem Notre-Dame-Dach freigesetzt haben könnte. Über die Strebebögen der Kathedrale könnte zudem belastetes Wasser in die Seine geflossen sein. Ayrault sucht deshalb in Sedimentproben, die stromabwärts in der Normandie genommen wurden, nach Blei. Auch hier wird sie versuchen herauszufinden, was die Kathedrale zur Verschmutzung beigetragen hat. Der größte Teil des freigesetzten Bleis dürfte jedoch in Notre-Dame geblieben sein.

Im Juni 2019, als Azéma und ihre Kollegen ihre ersten Proben aus der Kathedrale ins Labor brachten, lag noch überall gelber Bleistaub. Aufgrund der Toxizität von Blei, gefährlich besonders für Kinder, hat die französische Gesundheitsbehörde einen Grenzwert 0,1 Mikrogramm pro Quadrat-zentimeter für die Oberflächen von Gebäuden festgesetzt. "Bei meiner ersten Probe war der Wert 70-mal so hoch", sagt Emmanuel Maurin, Holzwissenschaftler und Lei-ter der Holzabteilung von LRMH. Er analysierte die Oberflächen von Beichtstühlen und Chorsitzen aus Eichenholz.

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(Foto: Eric Feferberg/AFP)

Tischlerlehrlinge arbeiten an einem neuen Dachstuhl.

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(Foto: Francois Mori/AP)

Der vergoldete Engel überstand den Absturz vom Dach.

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(Foto: AP)

Claudine Loisel reinigt ganz vorsichtig ein Buntglas.

Dabei sorgen sich die Wissenschaftler wenig um ihre eigene Gesundheit, Blutuntersuchungen haben keinen signifikanten Anstieg des Bleigehalts gezeigt. "Es ist ja nicht so, dass wir die Wände ablecken", sagt Zimmer. Trotzdem hat die nationale Arbeitsaufsichtsbehörde strenge Sicherheitsbestimmungen verhängt. Beim Betreten belasteter Bereiche müssen sich alle Personen nackt ausziehen und Einwegpapierunterwäsche und Sicherheitsanzüge anziehen sowie Schutzmasken mit Atemgerät aufsetzen. Nach maximal 150 Minuten Exposition ziehen sie die Papierkleidung ab, duschen und schrubben ihren Körper von Kopf bis Fuß. "Wir duschen fünf Mal am Tag", sagt Zimmer.

Das Kulturministerium hat das LRMH beauftragt, einen Weg zu finden, die Kathedrale möglichst ohne Beschädigungen vom Blei zu reinigen. Claudine Loisel, Leiterin der LRMH-Glasabteilung, hat zahlreiche Techniken für die Dekontamination jener 113 Buntglasfenster getestet, die den Brand überstanden haben. Bereits geschwärzt und klebrig von Ruß, Staub und Rückständen von Millionen Touristen, Gläubigen und Votivkerzen, fällt auf ihnen das gelbe Bleipulver kaum auf. Unter dem Mikroskop hat Loisel jedoch Bleioxidknoten auf drei Scheiben gefunden.

Dennoch möchten die Forscher nicht die gesamte Kathedrale mit Babytüchern reinigen

Das nationale Gesundheitsamt empfiehlt normalerweise handelsübliche Feuchttücher, um Oberflächen zu untersuchen und auf Blei zu testen. Da die Tücher jedoch geringe Mengen an Säure enthalten, die die Fensterfarben beschädigen könnten, hat Loisel das Amt von "chemikalienfreien" Babytüchern aus dem Supermarkt überzeugt. Dennoch möchten die Wissenschaftler nicht die gesamte Kathedrale mit Babytüchern reinigen. Es hat sich gezeigt, dass sich die meisten glatten Oberflächen - Glas, Metall, gewachstes Holz und sogar Farbflächen - mit einem Nassauger sowie angefeuchteten Wattepads gut reinigen lassen.

Die porösen Steine erfordern einen anderen Ansatz. Eine Möglichkeit besteht darin, sie mit einem Latex-Kitt zu bestreichen, der dann zusammen mit dem Bleistaub abgezogen werden kann. Bei einer weiteren Methode wird eine Kompresse auf Tonbasis verwendet, die trocknet und sich zusammenzieht und bleihaltige "Chips" erzeugt, die aufgesammelt und entsorgt werden können. Auch Laser könnten eingesetzt werden. "Wahrscheinlich werden wir eine Kombination dieser Techniken verwenden", sagt Vergès-Belmin.

Nach dieser ersten Notfallphase öffnet sich Notre-Dame nun langsam für Wissenschaftler, die sich mit Geschichte und Architektur beschäftigen, schließlich hat das Feuer zuvor unbekannte Strukturen in dem Bau freigelegt.

Das Kulturministerium und das CNRS haben ein Team von etwa hundert Forschern aus verschiedenen Institutionen zusammengestellt. Die neuen Möglichkeiten verursachen bei Wissenschaftlern und Historikern Aufregung. "Wir sortieren Tausende Fragmente - einige aus unserer Welt, einige aus einer anderen und älteren Welt - es ist, als würden wir mit dem Mittelalter kommunizieren", sagt Dillmann.

Yves Gallet etwa, Kunsthistoriker an der Université Bordeaux Montaigne, untersucht Steine, die noch an ihrem Platz sitzen, etwa die Umhüllungen der riesigen Rosettenfenster. Durch detaillierte fotografische Analysen möchte er verstehen, wie Steinmetze aus dem 13. Jahrhundert diese Meisterwerke hinbekommen haben. Ihre Analysen könnten bestätigen, was die Historiker zur Baugeschichte bislang nur vermuten. "Der Mörtel kann uns viel darüber erzählen, welche Steine gleichzeitig platziert wurden und welche Kräfte in diesen Bereichen gewirkt haben", sagt er.

Mit einem Bodenradar möchte Gallet zudem untersuchen, was sich unter der Kathedrale befindet. Anhand von Radarwellenechos könnte er bislang unbekanntes Mauerwerk identifizieren, das vor dem Bau von Notre-Dame errichtet wurde. Vielleicht findet er Überreste früherer Kirchen, die möglicherweise einst an dieser Stelle standen. Im Normaltrieb der Kathedrale waren solche Untersuchungen nicht möglich.

In der Zwischenzeit fahndet die Geologin Lise Leroux nach der Herkunft der Gewölbesteine. Viele sollen in Montparnasse, einem nahegelegenen Pariser Stadtteil, abgebaut worden sein, aber sie vermutet weitere Herkunftsorte. "Sehen Sie diese Planktonfossilien, gemischt mit Ton und Quarz?" fragt sie und zeigt einen Stein. "Der ist nicht aus Montparnasse!" Sie zieht eine Archivschublade auf und holt einen steinigen Splitter mit der Aufschrift "Pont d'Iena" heraus - die Pariser Brücke neben dem Eiffelturm. "Dies ist eine perfekte Übereinstimmung", sagt sie. Die Brücke und die Gewölbesteine stammen beide aus einem Steinbruch im französischen Vexin, einem Wald eine Stunde nordwestlich von Paris.

Bereits Generationen vor Baubeginn haben die Menschen das Gebäude geplant

Mit den verkohlten Überresten der Dachbodenhölzer beschäftigt sich Alexa Dufraisse, die CNRS-Forscherin leitet die Holzabteilung. Variationen in Dicke, Dichte und chemischer Zusammensetzung von Wachstumsringen dokumentieren Jahr für Jahr die klimatischen Bedingungen. "Holz registriert absolut alles, während es wächst", sagt sie. Die Eichenbalken von Notre-Dame wuchsen im 12. und 13. Jahrhundert, einer warmen Zeit, die als mittelalterliches Klimaoptimum bekannt ist. Wenn man Wachstumsringe und Wirtschaftsdaten miteinander verknüpft, können die Forscher analysieren, wie sich Klimaschwankungen auf die mittelalterliche Gesellschaft ausgewirkt haben.

Selbst die Form der Balken liefert Informationen: Da sie lang und schmal sind, sind sie eindeutig in einem dichten, wettbewerbsorientierten Wald gewachsen, sagt Dufraisse. Dies stützt die Hypothese, dass die Bäume gezielt für die Kathedrale kultiviert wurden. Und da sie ungefähr im Alter von 100 Jahren gefällt wurden, lässt sich vermuten, dass die Menschen bereits Generationen vor Baubeginn mit der Planung von Notre-Dame begonnen hatten. Und wiederum eine chemische Signatur liefert Hinweise auf die Lage der Wälder. Das Verhältnis von Strontium- und Neodym-Isotopen in dem Holz variiert nämlich je nach Region.

Holzwissenschaftler Emmanuel Maurin untersucht Markierungen, die von den Baumeistern auf den Balken angebracht wurden. Sie waren als Anweisungen für das Montageteam gedacht, das mehr als 30 Meter über dem Grund arbeitete. "Wie in einem Ikea des Mittelalters", sagt er.

Jenseits der Bauschäden hat das Feuer auch die Seelen vieler Menschen berührt. Sylvie Sagnes, eine CNRS-Ethnologin am Interdisziplinären Institut für zeitgenössische Anthropologie in Paris, analysiert die emotionalen Auswirkungen des Feuers, sie interviewt mit ihrem Team Einheimische, Touristen, Stadtführer, Journalisten, Spender und Kirchenmitglieder. Sie weiß, dass Menschen häufig starke Bindungen zu historischen Stätten entwickeln. Deshalb gibt es bei Notre-Dame so heftige Emotionen in der Öffentlichkeit, etwa bei der Frage, ob sie genauso aufgebaut werden soll, wie sie vor dem Brand aussah. "Notre Dame ist nicht irgendein Denkmal", sagt Sagnes. "Die Menschen sind emotional verstrickt mit dem Bau."

Valérie Tesnier, eine Café-Besitzerin in der Nähe von Notre-Dame, berichtet über ein verändertes Verhalten der Touristen. Sie beobachten jetzt feierlich die Restaurierungsarbeiten, ziehen dann aber weiter. "Sie wollen nicht bleiben und ihre Trauer verlängern", sagt Tesnier.

Notre-Dame hat über die Jahrhunderte Zyklen des Niedergangs und der Erneuerung erlebt. Die LRMH-Wissenschaftler hoffen, dass Freude und Dankbarkeit zurückkehren, wenn die Gewölbe und Strebepfeiler wieder trocken und stabil sind, das Blei unter Kontrolle ist, und die große Kathedrale besser verstanden wird als zuvor.

"Notre-Dame wird wiederhergestellt", sagt Aline Magnien. "Ihre Kunstwerke, der Stein und das Buntglas werden gereinigt. Sie wird leuchtender und schöner sein als zuvor."

Dieser Beitrag ist im Original im Wissenschaftsmagazin Science erschienen, herausgegeben von der AAAS. Deutsche Bearbeitung: fehu/cwb

© SZ vom 04.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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