Nobelpreisträger Edvard Moser im Interview:"Ich habe keine Ahnung, was jetzt passiert"

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Am Münchner Flughafen wurde er vom Nobelpreis überrascht: Edvard Moser erklärt, wie "Rasterzellen" im Gehirn uns helfen, nach Hause zu finden, was Gehirne mit Computern gemeinsam haben - und wie orientierungslos man wird, wenn man von der Ehrung erfährt.

Von Christoph Behrens

Edvard Moser hat gerade den Nobelpreis für Medizin erhalten, gemeinsam mit seiner Ehefrau May-Britt und dem Neurowissenschaftler John O'Keefe . Das Nobelpreiskomitee hat den Neurologen für seine bahnbrechenden Arbeiten ausgezeichnet, die entschlüsseln, wie Säugetiere - also auch Menschen - sich räumlich zurechtfinden. Der Norweger kennt sich also gut aus mit der Orientierung, doch gerade wirkt er, als sei ihm etwas schwindelig. Kein Wunder: Von der Auszeichnung hat er vor weniger als zwei Stunden erfahren, gerade hat er Dutzenden Journalisten in München seine Arbeit erläutert. Hier am Max-Planck-Institut für Neurobiologie wird er als Gastwissenschaftler einige Wochen forschen.

Süddeutsche.de: Herr Moser, wie haben sie vom Gewinn des Nobelpreises erfahren? Im Flugzeug?

Edvard Moser: Als ich aus dem Flieger in München kam, stand da eine Frau mit Blumen. Und ein Flughafen-Auto. Das war das erste Mal, dass ich in einem Flughafen-Auto fuhr. Und ich verstand nicht, warum. Dann sagte die Dame, ich hätte einen Preis gewonnen. Ich fragte: 'Welchen Preis?' Das wusste sie nicht. Dann sah ich auf meinem Telefon eine Nachricht des Sekretärs des Nobelpreiskomitees. In dem Moment rief auch Tobias Bonhoeffer (vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Anm. d. Red.) an, und langsam verstand ich. Das war alles innerhalb einer Minute.

Kann in einem Moment wie diesem das Orientierungssystem des Menschen versagen?

(Lacht.) Nein, ich wusste schon wo ich war. Aber auf dem Weg vom Gate hatte ich keine Ahnung, was um mich herum passierte, jemand führte mich. Das war alles ziemlich viel.

Wie funktioniert denn der Orientierungsmechanismus, den Sie, Ihre Frau und John O'Keefe entschlüsselt haben?

O'Keefe entdeckte 1971 bereits die "Platzzellen". Das sind Zellen, die nur aktiv sind, wenn man an einem bestimmten Ort im Raum ist. Die eine Zelle würde sich nur einschalten, wenn ich dort drüben stünde; die andere wieder an einem anderen Ort. Dreißig Jahre lang verstand keiner genau, was in diesen Zellen geschieht. Meine Frau und ich schauten dann auf einer Ebene, die im Gehirn übergeordnet ist. In einem Areal hinter den Platzzellen maßen wir die Aktivität und fanden dort einen anderen Zelltyp, der Orte auf eine weitere Art kartiert. Jede dieser "Rasterzellen" feuert auf viele verschiedene Arten in einem sechseckigen Muster, dadurch entsteht eine Art Koordinatensystem. Damit bilden die Zellen Länge und Breite ab, eine Karte entsteht im Gehirn. Beide Zelltypen arbeiten in einem Netzwerk zusammen, das der Orientierung dient.

Die Experimente fanden meist mit Tieren wie Ratten statt. Bei Menschen hat man ähnliche Netzwerke erst vor kurzem beobachtet. Haben denn alle Lebewesen diese Art der Orientierung gemeinsam?

Bei Säugetieren ist es ein universelles Prinzip, man hat es schon in Fledermäusen, Affen und Menschen nachgewiesen. Niemand hat das bei primitiveren Lebewesen als Säugetieren bislang beobachtet - wir wissen jedoch auch nicht genau, wie wir bei einfachen Lebensformen danach suchen sollen. Säugetiere scheinen in jedem Fall über diese Navigation zu verfügen. Die Zellen sind zwar leicht unterschiedlich, aber sie erzeugen ähnliche Muster. In Affen und Menschen ist die Orientierung vermutlich auch stark vom Sehen abhängig.

Könnten beim Menschen noch komplexere Zellmechanismen bei der Orientierung eine Rolle spielen?

Natürlich, wir haben bislang nur die Spitze des Eisbergs gesehen. Ich bin sicher, dass wir in dreißig Jahren ein weitaus genaueres Bild haben.

Alzheimerpatienten verlieren häufig die Orientierung und erkennen ihre Umgebung nicht mehr. Könnte die Forschung diesen Patienten in Zukunft helfen?

Die Orientierung zu verlieren, ist sogar eins der frühesten Symptome von Alzheimer. Da sind genau die Gehirnbereiche betroffen, die wir untersuchen. Wenn wir gesunde Gehirne untersuchen, um den Mechanismus zu verstehen, könnte das helfen, den Verlauf der Krankheit zu entschlüsseln. Wir machen dabei Fortschritte, aber es ist ein langer Weg.

Ihre Forschung beschäftigt sich viel damit, wie das Gehirn Informationen verarbeitet. Das erinnert stark an die Informatik. Lässt sich beides vergleichen?

In mancher Weise sind Gehirne wie Computer - viele Begriffe stammen auch aus der Informatik. Dennoch sind beide grundverschieden. Viele Dinge beherrscht das Gehirn ganz einfach: Es versteht zum Beispiel intuitiv, dass ein Objekt das gleiche ist, egal ob man es unter starker oder schwacher Beleuchtung, in grünem oder blauem Licht betrachtet. Computern fällt das dagegen sehr schwer. Sie können nicht so gut Dinge parallel tun - gerade das machen Gehirne die ganze Zeit, jeder Teil kommuniziert ständig mit den anderen Teilen.

Diese biologischen Kalkulationen wie bei der Orientierung kommen also in anderen Sinneswahrnehmungen auch vor?

Auch beim Sehen oder Hören gibt es ähnliche Prinzipien. Das Grundprinzip ist dasselbe: Stets sind Neuronen im Spiel, die in einem Netzwerk zusammenarbeiten. Das ist oft so in der Biologie: Auch die Buchstaben der DNA sind in allen Lebewesen identisch. Das Erbgut bewirkt zwar unterschiedliche Dinge, aber die Codes sind gleich.

Wie können Sie als Forscher jetzt die Motivation aufrechterhalten, nachdem Sie den Nobelpreis gewonnen haben? Was treibt einen da noch an?

Wenn die Motivation eines Wissenschaftlers nur darin besteht, den Nobelpreis zu gewinnen, wird er ihn nicht gewinnen. Da muss es einen inneren Antrieb geben, und das ist bei mir die Neugier.

Ihre Neugier hat Sie jetzt nach München ans Max-Planck-Institut für Neurobiologie geführt. Was hoffen Sie, hier zu entdecken?

Tobias Bonhoeffer und ich wollen die Rasterzellen visualisieren, die essentiell für die Navigation sind. Während Mäuse durch die Gegend rennen, können wir durch winzige Mikroskope sehen, wie diese Zellen arbeiten. Diese Technik wurde hier perfektioniert.

Konnten Sie schon mit Ihrer Frau sprechen und sich gegenseitig gratulieren?

Ich habe dreimal versucht anzurufen. Dann rief sie an, als ich im Auto vom Flughafen saß. Sie war sehr, sehr glücklich.

Wann feiern Sie zusammen?

Ich habe keine Ahnung, was von jetzt an passiert. Aber früher oder später werden wir sicher zusammen feiern.

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