In den Schlafräumen amerikanischer Universitäten sind schon Weltunternehmen entstanden. Mark Zuckerberg entwickelte in Harvard eine Internetplattform namens Facebook. Kenneth Griffin legte dort zwei Fonds auf - die Wurzeln der milliardenschweren Hedgefonds-Gruppe Citadel. Und wer weiß, was aus der Studentenbude von Harman Johar kommen wird.
Harman Singh Johar ist 21 Jahre alt und studiert Insektenkunde an der Universität von Georgia in Athens. In seinem Zimmer steht ein hermetisch verschlossener und klimatisierter Schrank. Darin bewahrt der Student weder Hemden noch Bücher auf, sondern Insekten. Genauer: Er züchtet Mehlwürmer und Grillen für den menschlichen Verzehr. "Wehe, wenn ich einen Mehlwurm draußen sehe, ich werfe dich sofort raus", habe ihm sein Mitbewohner klargemacht, sagt Johar. Aber er hat alles im Griff.
Johars Schrank ist der Kern einer jungen Firma namens "World Entomophagy" (etwa: "Weltweit Insekten essen"). "Wir wollen für einen schnell wachsenden Markt biologisch erzeugte Insekten bereitstellen", sagt Johar. "Das größte Problem ist momentan, dass es nicht genügend Ware gibt."
World Entomophagy hat derzeit noch mehr Pläne als Substanz. Johars 17 Mitarbeiter, alles Studenten, werden nicht bezahlt, sondern bekommen "Anreize"; zum Beispiel dürfen sie an einer hochkarätigen Insektenkonferenz am angesehenen Naturkundemuseum Los Angeles teilnehmen und auf eine Beteiligung am künftigen Erfolg von World Entomophagy hoffen. Über seinen Umsatz redet Johar nicht, aber es dürften kaum mehr als ein paar tausend Dollar im Jahr sein. Das soll sich nun ändern.
Insekten sind derzeit das heißeste Thema unter umweltbewegten Menschen in den USA. Das hat einen Grund: Die Welternährungsorganisation FAO behauptet, dass die Menschheit ohne Insekten auf Dauer nicht satt werden kann. "Wir haben eine Fleischkrise in der Welt", sagt Arnold van Huis, Professor an der Universität Wageningen (Niederlande), der für die FAO arbeitet. "Im Jahr 2050 werden neun Milliarden Menschen auf der Erde leben, gleichzeitig essen sie immer mehr Fleisch. Vor 20 Jahren waren es durchschnittlich 20 Kilo, heute sind es 50 und in 20 Jahren werden es 80 Kilo sein. Wenn wir so weitermachen, brauchen wir eine zweite Erde."
Die Lösung: Insekten. Insekten sind eiweißreich und konkurrieren nicht mit den Menschen um Nahrungsreserven. "Eine Baumwanze hat so viel Proteine wie ein Steak", schrieb die amerikanische Business Week bewundernd. Experten der Universität Wageningen machten über 1700 essbare Insektenarten auf der Welt aus, vom Prachtkäfer aus Angola über die Riesenkakerlake aus dem Kongo, verschiedene Eintagsfliegen und Webertermiten bis zur japanischen Riesenhornisse.
In vielen Gegenden der Welt sind Insekten selbstverständlicher Teil der Ernährung. Gut 2,5 Milliarden Menschen in Südasien, Lateinamerika und Afrika essen Heuschrecken, Mehlwürmer und anderes Getier. Sogar die Bibel befasst sich mit dem Thema. Nach dem Auszug aus Ägypten verbietet Gott dem Volk Israel zwar generell den Verzehr von Insekten, macht aber eine ausdrückliche Ausnahme bei vier Heuschreckenarten (3. Buch Mose 11,22). Nur in Europa und Nordamerika waren Insekten bis vor kurzem tabu.
Harman Johar ist der Sohn von Einwanderern aus dem indischen Punjab, wo Heuschrecken zur kulinarischen Tradition gehören. Bei seinen Eltern habe es zwar keine Insekten im Kochtopf gegeben, "aber ich kannte auch nie den Widerwillen dagegen, wie ihn die meisten Amerikaner haben". Seine Firma bietet gegenwärtig zwei Produkte an: eine 100-Gramm-Dose gefriergetrockneter Mehlwürmer für zehn Dollar und eine Packung mit 200 Grillen, ebenfalls gefriergetrocknet, für 15 Dollar.
"Gefriertrocknen ist eine sehr humane Methode, die Tiere zu töten", sagt Johar. World Entomophagy hat noch wenige Kunden: die Universität Yale, Schulen, einen niederländischen Online-Versand namens Delibug. Jetzt wirbt Johar mit Hilfe eines Anwalts Investoren ein. In Kalifornien sollen "Produktionsanlagen" entstehen, also Räume, in denen Grillen und Mehlwürmer im quasi-industriellen Maßstab gezüchtet werden können. Zusammen mit der FDA - die US-Behörde ist zuständig für Lebensmittel- und Arzneisicherheit - will er Standards entwickeln für den Umgang mit Insekten in Küchen.
Der Markt fürs Insektenessen ist ungewöhnlich, in jeder Hinsicht. Seit 20 Jahren produziert die Firma Hotlix aus Grover Beach in Kalifornien Dauerlutscher, in deren Zuckermasse sich ganze (und echte) Skorpione, Ameisen, Schmetterlinge und Grillen finden - eher ein Spiel mit dem Ekel als ein Beitrag zur Welternährung. Bugmuscle aus dem kalifornischen Redlands liefert proteinreiche Nahrungszusätze aus Insekten für Hochleistungssportler und Muskelmänner. Werbeslogan: "We don't use steroids! We eat bugs" ("Wir nehmen keine Steroide, wir essen Insekten").
In Bugmuscle-Produkten sind die Insekten zu Pulver verarbeitet, wodurch man nicht mehr sieht, was man isst. Matthew Krisiloff, ein 21 Jahre alter Student der Universität Chicago, bekam 2011 einen Zuschuss von 10 000 Dollar, um eine Technik zu entwickeln, mit der Insekten ähnlich wie Krabben geschält werden können und so appetitlicher werden. Auch die Gastronomie hat das Thema entdeckt. In New York veranstaltet die Kochschule Brooklyn Kitchen Testessen mit Wanzen, Mehlwürmern und Heuschrecken für 85 Dollar je Teilnehmer. Das Toloache, ein Restaurant in Manhattan, bietet die mexikanische Spezialität "Chapulines" an, getrocknete Grashüpfer.
Insektenleute lassen sich grob in zwei Gruppen aufteilen: Abenteurer und Weltverbesserer. Die einen suchen den Nervenkitzel ("schon mal einen Skorpion gegessen?"), die anderen versuchen, ihre Mitmenschen davon zu überzeugen, dass sie aus Verantwortungsbewusstsein ihre Ernährung auf Insekten umstellen müssen. Zum Beispiel David Gracer, ein Literaturdozent aus Providence (Rhode Island). Er wirbt seit 1997 für das Insektenessen und berät auch Unternehmensgründer Harman Johar. Im Sommer unternahm er einen Selbstversuch: Er ernährte sich 30 Tage lang ausschließlich von Gemüse und Insekten. "Es hat funktioniert", sagt Gracer.
Und nun kommen junge Leute wie Harman Johar dazu, die aus dem Ganzen ein ernsthaftes Geschäft machen wollen. Die Nachfrage gibt es. Wer heute zu Hause Mehlwürmer kochen will, muss sie in einer Zoohandlung kaufen, wo sie eigentlich als Fischfutter angeboten werden - nicht unbedingt jedermanns Sache. "Ich koche die Tiere immer gründlich durch, dann ist man vor Parasiten sicher", sagt Marianne Shockley, die Mentorin von Harman Johar an der Universität von Georgia und überzeugte Insektenesserin. Johars Bio-Grillen und -Würmer sollen die Alternative zur Zoohandlung sein.
Frage an den Unternehmensgründer: Was soll ein normaler Westler tun, um seinen Ekel vor Insekten zu überwinden? Antwort: "Fangen Sie mit Mehlwürmern an. Die haben einen sehr subtilen Geschmack, fast wie Popcorn."