Mathematik:Wie sogenannte Zitierkartelle die Wissenschaft unterwandern

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Foto aus einer Bibliothek in Rio de Janeiro, Brasilien. Wer in der Wissenschaft viel zitiert wird, dem wird in der Regel eine hohe Bedeutung beigemessen. (Foto: CARL DE SOUZA/AFP)

Wie oft ein Fachartikel von anderen Forschern zitiert wird, ist ein wichtiges Maß in der Wissenschaft - doch lässt es sich mit ein paar Tricks manipulieren. In der Mathematik führt das jetzt zu herben Konsequenzen.

Von Michele Catanzaro

Mathematiker-Cliquen an Institutionen in China, Saudi-Arabien und anderswo haben die Zitationszahlen von Kollegen mutmaßlich künstlich in die Höhe getrieben. Dazu veröffentlichten sie qualitativ minderwertige Arbeiten, die Aufsätze der Kollegen immer wieder zitieren - wodurch diese in den einschlägigen Rankings steigen. Das ist das Ergebnis einer noch unveröffentlichten Analyse, die vom Wissenschaftsjournal Science eingesehen wurde. So kommt es, dass Universitäten - von denen einige offenbar nicht einmal mathematische Abteilungen haben - jedes Jahr mehr mathematische Arbeiten veröffentlichen, die extrem häufig zitiert werden, als Hochschulen mit hohem Renommee in dem Bereich, wie etwa Stanford und Princeton.

Diese sogenannten "Zitierkartelle" scheinen nach Ansicht von Experten zu versuchen, die Rankings ihrer Universitäten zu verbessern. "Es steht viel auf dem Spiel - Auf- oder Abstiege in den Rankings können Universitäten Dutzende Millionen Dollar kosten oder einbringen", sagt Cameron Neylon, Professor für Forschungskommunikation an der australischen Curtin University. "Es ist unvermeidlich, dass Leute die Regeln beugen und brechen, um ihre Position zu verbessern." Als Reaktion auf solche Praktiken hat das Unternehmen Clarivate, das auf Zitationsanalysen spezialisiert ist, den gesamten Mathematik-Bereich von seinem jüngsten Ranking hoch zitierter Arbeiten ausgeschlossen, das im November 2023 veröffentlicht wurde.

Viele Artikel erscheinen in Fachzeitschriften, die kein seriöser Mathematiker lesen würde

Die neue Analyse ist das Werk von Domingo Docampo, einem Mathematiker an der spanischen Universidade de Vigo, der sich seit Langem mit Hochschulrankingsystemen beschäftigt. In den letzten Jahren war Docampo aufgefallen, dass die Clarivate-Liste der am häufigsten zitierten Forscher (HCR) nach und nach von weniger bekannten Mathematikern übernommen wurde. "Es gab Leute, die in Zeitschriften veröffentlichten, die kein seriöser Mathematiker liest, deren Arbeit in Artikeln zitiert wurde, die kein seriöser Mathematiker lesen würde, und die von Institutionen kamen, die in der Mathematik niemand kennt", sagt er. Also beschloss er, die Daten von Clarivate aus den letzten 15 Jahren zu untersuchen, um herauszufinden, welche Universitäten hoch zitierte Arbeiten veröffentlichten und wer diese zitierte.

Die Daten zeigen, dass zwischen 2008 und 2010 Institutionen wie die University of California, Los Angeles (UCLA) und Princeton mit 28 beziehungsweise 27 die meisten hoch zitierten mathematischen Arbeiten veröffentlichten. In diese Kategorie fallen das eine Prozent der Fachartikel, die in einem Jahr am häufigsten zitiert werden. In den Jahren 2021 bis 2023 wurden die renommierten Hochschulen jedoch von Einrichtungen mit wenig mathematischer Tradition verdrängt, von denen viele in China, Saudi-Arabien und Ägypten zu finden sind. Im jüngsten Zeitraum führte die China Medical University in Taiwan die Liste mit 95 hoch zitierten mathematischen Arbeiten an. Ein Jahrzehnt zuvor war diese Institution mit keinem einzigen Paper in der Liste vertreten. Die UCLA hingegen hatte zuletzt nur eine einzige hoch zitierte Arbeit.

Docampo fand Muster, die darauf schließen lassen, dass Zitierkartelle am Werk waren. Am aufschlussreichsten ist, dass die Zitate zu den Top-Papieren oft von Forschern derselben Einrichtung stammen wie die Autoren des zitierten Papiers. So veröffentlichten etwa die China Medical University und die King Abdulaziz University, die zwischen 2021 und 2023 66 Top-Publikationen vorweisen konnten, Hunderte Studien, die besonders häufig zitierte Arbeiten zitierten. Docampo fand zudem heraus, dass die Studien, die sich auf hochgradig zitierte Arbeiten bezogen, häufig in fragwürdigen Zeitschriften veröffentlicht wurden, von denen unseriöse Zitierpraktiken möglicherweise leichter akzeptiert werden.

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Wissenschaftler, die nicht an Docampos Analyse beteiligt waren, bestätigen, dass all dies auf eine weitverbreitete Zitiermanipulation hindeute. "Es gibt eine Reihe von Forschern, die versuchen, ihre Zitierhäufigkeit künstlich zu steigern, und zwar auf eine Art und Weise, die in keiner Weise ihre wissenschaftliche Qualität widerspiegelt", sagt Helge Holden, Vorsitzender des Abelpreis-Komitees, einer der renommiertesten Auszeichnungen in der Mathematik. "Das kann man nur verurteilen."

Yueh-Sheng Chen, leitender Sekretär der China Medical University, sagt, seine Universität habe sich nicht an dieser Praxis beteiligt. "Wir wissen nichts über gezielte Zitate und sind nicht an solchen Manipulationen beteiligt." Die Einbindung "international renommierter Experten und Wissenschaftler aus Bereichen wie der angewandten Mathematik" sei Teil des interdisziplinären Ansatzes der Universität, fügt er hinzu. Die King Abdulaziz Universität antwortete nicht auf die Anfrage von Science nach einem Kommentar.

Clarivate lehnte es ab, sich zu diesem Thema zu äußern. In Erklärungen zu seiner Entscheidung, Mathematiker von der jüngsten HCR-Liste auszuschließen, erklärt das Unternehmen jedoch, es sei besorgt ob der Versuche, den eigenen Status durch Publikations- und Zitationsmanipulationen anzuheben. Die Mathematik sei besonders anfällig für Manipulationen, da das Fachgebiet klein ist, schreibt das Unternehmen. "Die durchschnittliche Publikations- und Zitationsrate ... ist relativ niedrig, sodass kleine Zuwächse bei Publikationen und Zitationen die Darstellung und Analyse des gesamten Fachgebiets verzerren können."

"Wir bedauern sehr, dass keine andere Möglichkeit gesehen wurde, als die Mathematik überhaupt nicht mehr aufzuführen"

Aber auch in anderen Fachbereichen werden Zitate manipuliert, sagt Félix de Moya Anegón, Bibliometriker an der Universität von Granada - es ist nur nicht so sichtbar. Ilka Agricola, Vorsitzende des Komitees für elektronische Information und Kommunikation der Internationalen Mathematischen Union, befürchtet, dass der Eindruck entstehen könnte, das Fachgebiet sei von "betrügerischen Wissenschaftlern" unterwandert worden. Sie bedauere sehr, dass von Seiten Clarivates wohl "keine andere Möglichkeit gesehen wurde, als die Mathematik überhaupt nicht mehr aufzuführen."

Von Clarivate heißt es, man habe "Ratschläge von externen Experten einholt ..., um unseren zukünftigen Ansatz für die Analyse dieses Bereichs zu diskutieren." Docampo arbeitet bereits an einer verfeinerten Metrik, die Zitate nach der Qualität der zitierenden Zeitschriften und Institutionen gewichtet.

Andere Forscher sagen, dass die Manipulation von Zitaten lediglich ein Symptom für ein fehlerhaftes Bewertungssystem ist. Zitate und ähnliche Metriken sind nicht ausgefeilt genug, um die individuelle Leistung zu bewerten, sagt Ismael Rafols, Forscher am Zentrum für Wissenschafts- und Technologiestudien der Universität Leiden, und Menschen würden immer Wege finden, das System zu manipulieren. Helge Holden vom Abelpreis-Komitee stimmt dem zu: "Unterm Strich sind Zitate kein gutes Maß für wissenschaftliche Qualität."

Dieser Beitrag stammt aus dem Wissenschaftsmagazin Scienc e . Er wurde übersetzt und nachgedruckt mit Genehmigung von der AAAS. Es handelt sich nicht um eine offizielle Übersetzung der Science -Redaktion. Im Zweifel gilt das englische Original, herausgegeben von der AAAS. Deutsche Bearbeitung: hach

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