Japan: Evakuierung aus Tokio:"Wehe, wenn der Wind dreht"

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Wenn der Kampf um das Kraftwerk Fukushima-1 verloren geht, könnte sich eine strahlende Wolke auf Tokio zubewegen - doch wie evakuiert man eine 35-Millionen-Einwohner-Metropole? Experten sind sich einig: Alle in Sicherheit zu bringen, wird nicht funktionieren.

Katharina Riehl

Die Japaner erstaunen die Welt. Mit einer verblüffenden Ruhe reagieren viele auf die Atomkatastrophe in ihrem Land - Panik liege nicht in ihrer Natur, ist in diesen Tagen zu hören. Bis jetzt ist von Massenflucht aus Tokio keine Rede, obwohl immer neue Horrormeldungen aus den Reaktoren von Fukushima-1 um die Welt geschickt werden.

Auf der Flucht: Die ersten Japaner verlassen die Stadt Tokio. Ene Massenevakuierung erscheint aber kaum möglich. (Foto: dpa)

Die Frage ist nur: Bleibt den Japanern überhaupt etwas übrig, als abzuwarten?

Eine Evakuierung des Großraums Tokio scheint angesichts der Abermillionen Menschen, die dort wohnen, kaum vorstellbar. Frank Fiedrich, Professor an der Universität Wuppertal, forscht über Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Nach der Massenpanik bei der Loveparade von Duisburg haben er und andere Wissenschaftler ein Projekt zur Evakuierungsforschung gegründet - und seine Einschätzung ist eindeutig. Er hält eine vollständige Räumung der Stadt Tokio für unwahrscheinlich. Vor allem aus logistischen Gründen.

"Die Leute müssen ja irgendwo hin"

"Es ist ja nicht damit getan, die Leute wegzubringen", sagt Fiedrich, "sie müssen auch irgendwo hin. Bei 35 Millionen Einwohnern im Großraum Tokio ist das ein Riesenproblem." Schwierig sei vor allem, eine adäquate Versorgung der Menschen zu gewährleisten. "Diese haben alle Bedürfnisse, die einfachsten sind Essen, Trinken und Wohnen. Ich sehe nicht, wie das gehen soll."

Um die behelfsmäßigen Infrastrukturen für eine solche Notunterbringung zu schaffen, brauche man viel mehr Vorlauf. "Man benötigt die entsprechenden Vorabinformationen, wo man mit den Leuten hin kann, außerdem Notunterkünfte und im Extremfall Zeltstädte. Das geht nicht von heute auf morgen." Dass das gerade in einem so dicht besiedelten Land wie Japan nur schwer zu organisieren ist, liegt auf der Hand.

Besonders schwierig ist laut Fiedrich die Evakuierung von Menschen, die nicht oder kaum mobil sind. Krankenhäuser und Altenheime müssen alte und hilfsbedürftige Bewohner aus den entsprechenden Einrichtungen im Katastrophengebiet aufnehmen - "diese allerdings sind in dem für Tokio benötigten Umfang nicht vorhanden".

Wohin mit den Menschen?

Auch Horst Hamacher sieht eine vollständige Räumung der japanischen Metropole skeptisch. Er ist Professor am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Schulmathematik an der Universität Kaiserslautern und Mitglied beim vom Bund geförderten Forschungsprojekt für regionale Evakuierung. "Es gibt ja gar nicht genug Platz, der diese ganzen Menschen aufnehmen könnte", sagt er. "Wie lange kann das gutgehen, bis die Hotels in den Nachbarstädten voll sind?"

Doch nicht nur wegen der schieren Menge an Flüchtlingen scheint eine erfolgreiche Evakuierung Tokios unwahrscheinlich. Im Gegensatz zu Evakuierungen zum Beispiel bei einem Hurrikan sei ja gar nicht klar, wo genau man die Leute überhaupt in Sicherheit bringen könnte, sagt Hamacher. "In diesem Fall muss man die Sicherheit ja praktisch abhängig von der Windrichtung definieren. Und dann dreht sich der Wind - und man hat genau das Falsche getan."

Bei Hurrikans könne man gegebenenfalls die Menschen innerhalb des Katastrophengebiets kurzzeitig in Sicherheit bringen, sagt Fiedrich - bei einer nuklearen Verstrahlung mit unbekannter Zeitdauer sei die Situation aber eine ganz andere.

Evakuierungspläne liegen laut Fiedrich in den seltensten Fällen vor. Zum Beispiel in den USA: Für Hurrikan-bedrohte Städte gebe es solche Pläne durchaus, und auch für Siedlungen in der Nähe spezieller chemischer Betriebe. Doch für due großflächige Evakuierung von "extrem dicht besiedelten Gebieten wie Tokio sind Evakuierungspläne, selbst wenn vorhanden, praktisch kaum umsetzbar", aus "Gründen der Skalierbarkeit" - sprich, die Region ist zu groß.

Warum gibt es keine Massenpanik?

Dass die Japaner vergleichsweise ruhig auf die Bedrohung reagieren, nur Einzelne die Stadt verlassen und von einer Massenpanik noch immer keine Rede ist, sei wohl tatsächlich eine Mentalitätsfrage, sagt Fiedrich. "Wäre so etwas in einem westlichen Land geschehen, wäre wahrscheinlich das Bedürfnis größer, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und sich in Sicherheit zu bringen." Im Falle einer tatsächlichen Massenevakuierung sei die japanische Mentalität wahrscheinlich ein Vorteil.

Fest steht: Ein Szenario wie jetzt in Tokio gab es noch nie. Hamacher erinnert die Situation am ehesten an die Flucht nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Osten in den Westen. Die knapp zwölf Millionen Vertriebenen, die in den Jahren nach 1945 in die spätere Bundesrepublik kamen, sind zahlenmäßig am ehesten mit dem zu vergleichen, was in Japan zu befürchten steht. Deutlich ist aber auch der große Unterschied: "Die Flucht ging über die breite Fläche, das war eine Ost-West-Verschiebung." Und viel Platz zum Verschieben hat Japan nicht.

Und fest steht auch: Die Flucht gelingen würde wohl jenen, die mobil sind und sich selbständig auf den Weg machen. Auch beim Hurrikan in New Orleans seien vor allem die sozial Schwachen im Sturm zurückgeblieben, sagt Fiedrich. So könnte es auch in Tokio kommen.

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