Es gibt Tiere, die sind uns näher als Insekten. Die vielen Beinchen, das manchmal außerirdisch anmutende Aussehen, ihr Hang zu unberechenbaren Flugmanövern - Gliederfüßer sind vielen Menschen suspekt. Die meisten kümmerten sich entsprechend wenig bis gar nicht um das Schicksal der Insekten. Doch im Jahr 2017 änderte sich die öffentliche Wahrnehmung schlagartig. Tiere, die bis dahin kaum eine Lobby hatten - Bienen mal ausgenommen - , schafften es bis in die Tagesschau.
Eine Studie von Krefelder Entomologen in Naturschutzgebieten stellte einen dramatischen Rückgang der Biomasse fliegender Insekten fest. Um mehr als 75 Prozent ging ihre Zahl in 27 Jahren zurück. Die Veröffentlichung glich einem Paukenschlag. Plötzlich sprach die gesamte Republik über das Insektensterben. Doch wie groß der Effekt in anderen Regionen war und wie schnell die Tiere starben, blieb unklar. Ein Gesamtbild des Insektensterbens gab es nicht.
Jetzt haben Forscher des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung in Leipzig eine Metastudie vorgelegt, die das Phänomen weltweit zusammenfasst. Daten aus 166 Langzeitstudien flossen in die Meta-Analyse ein. Die Ergebnisse, die das internationale Forscherteam um Roel van Klink in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsjournals Science publiziert, sind besorgniserregend. Pro Jahr sinkt die Zahl der landlebenden Insekten um 0,92 Prozent. Jedes Jahrzehnt reduziert sich die Zahl der Kerbtiere also um neun Prozent.
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Auch wenn die Rückgangsrate damit niedriger ausfällt als in anderen Studien, bestätigt sie doch den allgemeinen Trend: Landlebende Insekten - wie Schmetterlinge, Heuschrecken oder Ameisen - werden immer weniger. Es ist ein leises Sterben. Der Mensch scheint den Trend wesentlich zu verstärken. Die Zerstörung der Habitate, der Einsatz von Pestiziden, die Lichtverschmutzung, mangelnder Naturschutz und die Ausbreitung invasiver Arten - viele Faktoren tragen dazu bei.
Die Meta-Analyse ist eine der umfassendsten Untersuchungen zum Thema. Der Zeitraum der ausgewählten Langzeit-Studien bewegte sich zwischen 1925 bis 2018. Untersuchungen, die die Forscher auswerteten, bezogen sich auf Daten aus 41 verschiedenen Ländern und knapp 1700 verschiedenen Standorten. Die Autoren nutzten komplexe statistische Verfahren und Modelle, um die vielen Studien vergleichbar zu machen.
Am Ende stellten die Forscher fest, dass das Tempo, in dem die Insekten verschwanden - je nach Kontinent und Lebensraum, teilweise sogar nach Region, stark schwankte. Gerade in Ländern, aus denen es Langzeitstudien gibt - wie Deutschland, Großbritannien oder die USA - beobachteten Forscher große Unterschiede. An manchen Orten ging die Zahl der Insekten stark zurück, an anderen blieb sie nahezu gleich und in ganz seltenen Fällen stieg sie sogar an.
Für einen entscheidenden Faktor hält Roel van Klink, Erstautor der Metastudie und Forscher bei iDiv, die Art der Landnutzung. Auf intensiv genutzten Agrarflächen kämen kaum Insekten vor. "Das hat mit dem Pflügen, Pestizideinsatz und der Ernte zu tun. Je öfter gemäht oder beweidet wird, desto weniger Insekten gibt es, weil sie einfach weniger Futter vorfinden", sagt van Klink.
Eine weitere Überraschung - jenseits der regionalen Unterschiede - stellten für die Forscher die Ergebnisse zu den Süßwasserinsekten dar: Deren Zahl stieg pro Jahr um 1,08 Prozent. Jonathan Chase, ebenfalls Wissenschaftler und Mitautor bei iDiv, hält es für ein gutes Zeichen, dass man den negativen Trend umkehren konnte: "In den letzten 50 Jahren wurde weltweit viel getan, um verschmutzte Flüsse und Seen wieder zu säubern. Dadurch haben sich möglicherweise viele Populationen von Süßwasserinsekten erholt."
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Für den Biologen Axel Hochkirch von der Universität Trier ist das kein Grund zur Beruhigung: "Es ist davon auszugehen, dass die meisten Studien an Fließgewässern gemacht wurden. Bei stehenden Gewässern hat sich die Lage vermutlich weniger gut entwickelt." Diese Trennung werde in der Metaanalyse nicht gemacht." Zudem kritisiert er, dass die Analyseparameter auch an anderen Stellen der Meta-Studie zu grob gewählt wurden. So sei generell nach Trends in der Zahl der Individuen und in der Biomasse gesucht worden, ohne aber zu unterscheiden, ob es sich um häufige, gefährdete oder invasive Arten handele.
Aus der Studie geht also nicht hervor, ob die invasive Kirschessigfliege sich munter fortpflanzt, während die heimische Schlupfwespe abdankt. Dass diese Aufteilung in Organismusgruppen nicht so einfach ist, erklärt van Klink: "Viele der von uns untersuchten Studien hatten ihre Ergebnisse nicht bis auf Artenniveau herunter aufgeschlüsselt." Zudem seien Langzeitstudien, die mehr als drei Jahre umfassten, in vielen Fällen schwer zu finden gewesen.
Dennoch hat das Forscherteam um van Klink versucht, konkretere Aussagen zu treffen. So zeigte die Meta-Studie, dass der Bestand von Insekten, die in Bäumen leben nahezu stabil geblieben ist, während Boden- und Luftinsekten zunehmend verschwinden, was sehr wahrscheinlich am Menschen liegt.
Was die Zunahme der Süßwasserinsekten betrifft, gibt es jenseits der Wasserqualität noch zwei Einflussfaktoren, die den global positiven Trend aus Sicht des Forscherteams erklären: die steigenden Temperaturen durch den Klimawandel und ein Nährstoffüberangebot durch Einträge aus der Landwirtschaft. Beides "negative anthropogene Einflüsse". Ökologe Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle erklärt, wie es dazu kommt: "Generell trägt das Nährstoffüberangebot zur Förderung bestimmter Insekten bei, während es andere zurückdrängt." Das zeige sich nicht nur bei Süßwasserinsekten: Eine gute Nährstoffversorgung sei auch günstig für bestimmte Pflanzen, wie beispielsweise die Brennnessel, was sich wiederum günstig für Schmetterlinge wie das Tagpfauenauge auswirke, deren Raupen von Brennnesseln lebten.
Zudem kann eine Insektenzunahme eben auch das Ansteigen von Schadinsekten oder eingeschleppten Arten bedeuten. Steigende Biomasse ist also noch kein Beleg dafür, dass sich die Dinge zum Guten entwickeln. So deutet auch die Zunahme des Borkenkäfers und des Schwammspinners nicht auf ein Zeichen besonderer ökologischer Güte ist. "Mehr Insekten zu finden, ist nicht immer gut", drückt es van Klink aus. Biomasse, Arten, Zahl der Individuen - man müsse eben alles untersuchen. Dennoch bräuchte man die Zahlen der Studie als einen Baustein. Natürlich interessiere jetzt alle Forscher, was genau mit den einzelnen Arten passiere, aber dazu brauche man Rohdaten.
Diese wichtige Meta-Studie zeigt, wie schnell die Zahl der Insekten abnimmt. Bleibt es bei dieser Geschwindigkeit gibt es in 75 Jahren nur noch halb so viele Insekten auf der Welt. Soll sich die Gesundheit der Ökosysteme nicht in immer höherem Tempo verschlechtern, gilt es diesen Trend aufzuhalten und das Artensterben auszubremsen. Die Gefahr von Zeiten wie der Corona-Pandemie ist, dass die Prioritäten sich verschieben und der Schutz der Insekten-Lebensräume marginal wirkt. Diese Studie leistet einen wichtigen Beitrag und erinnert daran, dass es nie zu spät ist, um gegenzulenken.