Site X nennen Forscher den Ort, an dem sich möglicherweise eines der größten Rätsel der frühen amerikanischen Geschichte aufklären lässt. Das erinnert ein bisschen an die Mystery-Serie "Akte X". Und so verkehrt ist das gar nicht, denn mysteriös ist das Verschwinden der ersten englischen Siedler in der Neuen Welt bis heute.
Niemand weiß, was vor mehr als 400 Jahren mit den 117 Männern, Frauen und Kindern passierte, die als erste größere Vorhut auf der Insel Roanoke vor North Carolina eine Kolonie gründeten. Sie könnten von Indianern angegriffen worden sein oder sie starben an einer Krankheit. Manche von ihnen könnten in der Not Zuflucht bei in der Nähe lebenden Indianern gesucht und sich mit ihnen vermischt haben. Oder - und das ist die neue Theorie - zumindest ein Teil von ihnen könnte sich ins Landesinnere zu Site X zurückgezogen haben.
An jenem Ort, den man nahe dem Zusammenfluss von Chowan River und Salmon Creek über eine staubige, zwischen Sojabohnen-Feldern hindurchführende Straße erreicht, fand das Team des amerikanischen Archäologen Nicholas Luccketti von der First Colony Foundation grün schimmernde Teile von Keramik und Steingut, zerdrückte Metallnieten, Gürtelschnallen, Haken, um Felle zu strecken, Nägel und sogar zwei Teile eines englischen Gewehrs. Für sich genommen ist das nicht spektakulär, doch die Funde lassen sich den Siedlern der "verlorenen Kolonie" der ersten Engländer zuordnen.
Roanoke Island (rot markiert) auf einer Karte aus dem späten 16. Jahrhundert
(Foto: British Museum)Scherben eines Kruges stammen aus North Devon in England, darin haben die Siedler auf Seereisen einst gesalzenen Fisch aufbewahrt. Die Küchengefäße stammen aus den Grafschaften Surrey und Hampshire - es handelt sich um typische Gebrauchsware aus dem 16. Jahrhundert. Möglicherweise sind sogar Scherben von Steingutflaschen aus deutscher Herstellung darunter, aus einem Betrieb in Frechen. Hier sind sich die Forscher noch nicht sicher. In jedem Fall haben die Archäologen neue Puzzlesteine zur Lösung der Tragödie um die "Lost Colony" entdeckt, die sich im Jahr 1587 oder kurz darauf in der Neuen Welt abgespielt haben muss.
Als der Landvermesser, Aquarellmaler und Gouverneur John White aus England im Jahr 1590 auf die Insel Roanoke vor der Küste von North Carolina zurückkehrte, waren alle Menschen verschwunden, die er dort drei Jahre zuvor zurückgelassen hatte. Seine Tochter Eleonora, seine Enkeltochter Virginia, das erste englische Kind, das auf amerikanischem Boden geboren worden war, und auch die restlichen Männer, Frauen und Kinder, die hoffnungsfroh mit ihm gestartet waren, um im Jahr 1587 für die britische Königin Elisabeth I. den neuen Kontinent zu kolonisieren. Die Siedlung Raleigh war verlassen.
Die Siedler waren wie vom Erdboden verschluckt, der Rückkehrer entdeckte nur eine mysteriöse Inschrift
White entdeckte nur noch eine mysteriöse Inschrift: Jemand hatte "CRO" in einen Baumstamm gekerbt. Möglicherweise war damit Croatoan gemeint, der Name einer nahegelegenen Insel, die heute Hatteras heißt und zu einer Reihe vorgelagerter Inseln gehört, die man heute Outer Banks nennt. Roanoke lag geschützt dahinter in einem Meeresarm, ein scheinbar guter Platz für eine Kolonie. White selbst erzählte später, er habe auch das ganze Wort "Croatoan" entdeckt, eingeritzt auf einer mannshohen Holzplanke im Fort - aber ob das stimmt, ist bis heute ungeklärt. Die Siedler jedenfalls waren wie vom Erdboden verschluckt, damals im August des Jahres 1590.
Konkrete Spuren der Lost-Colony-Siedler fehlten. Bis heute. Site X ist eine vielversprechende Fährte. Die Siedlung könnte einst ein Außenposten gewesen sein, zu dem sich zumindest eine kleine Gruppe der verschollenen Siedler aufmachte. "Wir denken, dass dort maximal ein Dutzend Menschen für eine gewisse Zeit lebten", sagt Luccketti. "Die Ausgrabungen liefern deutliche Hinweise, dass es sich um einige der Roanoke-Siedler gehandelt haben könnte." Stärkstes Indiz dafür sind die speziellen Keramiken aus England, die nur bis ins frühe 17. Jahrhundert hergestellt wurden und sicher aus der Alten Welt stammten. "Sie sind kolonialen Ursprungs", sagt Lucckettis Kollege Eric Klingelhofer, Historiker von der Mercer University in Macon.