Berlin:Missbrauch von Pflegekindern in Berlin länger als angenommen

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In Berlin wurden Kinder oder Jugendliche wohl länger als bisher angenommen gezielt zur Pflege an Pädophile vermittelt und von diesen dann auch sexuell...

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Berlin (dpa/bb) - In Berlin wurden Kinder oder Jugendliche wohl länger als bisher angenommen gezielt zur Pflege an Pädophile vermittelt und von diesen dann auch sexuell missbraucht. Das legt ein am Montag in der Hauptstadt vorgestellter Zwischenbericht eines Forschungsvorhabens der Universität Hildesheim zum verstörenden Wirken des Berliner Sozialpädagogen Helmut Kentler (1928-2008) nahe.

In dem Bericht, den der Senat in Auftrag gab, werden die Fälle von zwei Fünfjährigen aufgelistet, die 1989 beziehungsweise 1991 zu einem Pflegevater kamen, der regelmäßigen Kontakt zu Kentler pflegte. Die Opfer schilderten nun in Interviews mit den Wissenschaftlern ihr Leiden und machten dabei auch deutlich, das sie sich von staatlichen Stellen - nicht zuletzt dem Jugendamt - im Stich gelassen fühlten.

Die von Kentler als „wissenschaftliches Experiment“ verbrämte Praxis, Pflegekinder und -jugendliche an Pädophile zu vermitteln, begann in Berlin Ende der 1960er Jahre. Nach bisheriger Auffassung war sie vor allem bis in die 1970er und 1980er Jahren verbreitet. Jetzt zeige sich, dass der Einfluss Kentlers über einen weitaus längeren Zeitraum reiche als bisher angenommen, sagte Scheeres. „Und wir gehen davon aus, dass nicht nur Jugendliche, sondern auch Kinder betroffen waren.“

Kentler glaubte, dass sich pädophile Männer als Pflegeväter besser um ihre Schützlinge kümmern würden als andere Pflegeeltern. Dass sie dafür Sex wollen könnten, war für den seinerzeit weithin anerkannten Psychologen und Sexualforscher kein Hinderungsgrund. Die Pädophilen erhielten sogar Pflegegeld. Von Seiten der Behörden blieben diese Vorgänge entweder unbemerkt, wurden ignoriert oder sogar gefördert.

Scheeres wie auch die beteiligten Wissenschaftler verwiesen darauf, dass das Projekt zur Erforschung der erschütternden Vorgänge noch nicht abgeschlossen sei und bis April 2020 weiterlaufe. „Es darf nichts beschönigt werden, es darf nichts verharmlost werden. Das sind wir den Betroffenen schuldig“, sagte Scheeres. Wichtig sei zudem, die Verantwortung staatlicher Stellen, auch des Senats, herauszuarbeiten, Strukturen offenzulegen und Lehren für die heutige Jugendhilfepraxis zu ziehen.

Im Rahmen des Forschungsprojektes, das nicht das erste, aber wohl das umfassendste zu Kentler ist, sichten die Hildesheimer Wissenschaftler unter anderem Akten und sprechen mit unterschiedlichsten Zeitzeugen. Hilfreich wären dabei Opfer des quasi staatlich geförderten sexuellen Missbrauchs - allerdings haben sich bislang erst drei gemeldet, von denen zwei den Forschern über ihr Schicksal berichteten. Wieviele Opfer es überhaupt gibt, ist nach Aussage der Forscher unklar.

Kentler, der nach seiner Zeit am „Pädagogischen Zentrum Berlin“ als Professor für Sozialpädagogik an der TU Hannover lehrte, wurde für sein „Experiment“ nie strafrechtlich verfolgt, weil seine Taten als verjährt galten. An dieser rechtlichen Hürde scheiterten auch Anläufe von Opfern für eine juristische Aufarbeitung.

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