Fakten-Check Beschneidung:Harmloses Ritual oder Verletzung des Kindeswohls?

Lesezeit: 12 Min.

Umstrittenes Ritual: Die Beschneidung eines männlichen Säuglings. (Foto: dapd)

Zwei Entwürfe zur religiösen Beschneidung minderjähriger Jungen standen heute zur Entscheidung im Bundestag. Das Thema polarisiert: Kritikern wird unterstellt, sie seien islamophobe Antisemiten, Befürworter fühlen sich in ihrer Religionsausübung beschränkt. Ein Fakten-Check zu den wichtigsten Fragen in der Debatte.

Von Markus C. Schulte von Drach

Der Bundestag diskutierte am Mittwoch erneut über ein Gesetz, mit dem die Beschneidung minderjähriger Jungen aus nicht medzinischen Gründen geregelt werden soll. Zwei Entwürfe lagen vor. Derjenige der Bundesregierung überlässt die Entscheidung den Eltern - unabhängig von den Gründen. Der Eingriff muss jedoch nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgen. Ein alternativer Entwurf einer Gruppe von Abgeordneten fordert, dass die Operation erst bei Jungen im Alter von 14 Jahren erfolgen darf - mit ihrer Einwilligung. In der Debatte wurden viele Argumente für und gegen die religiöse Beschneidung vorgebracht. Ein Fakten-Check.

Körperverletzung oder harmloser Eingriff?

In bestimmten Fällen wird eine Beschneidung als medizinisch notwendig betrachtet und dient damit ohne Frage dem Kindeswohl. Allerdings wird heute in Deutschland schon seltener beschnitten als in der Vergangenheit, man setzt stärker auf sanftere Methoden, um zum Beispiel eine Vorhautverengung zu behandeln.

Denn: Beim Abschneiden eines Teils der Vorhaut wird nicht nur ein nutzloser kleiner Hautfetzen entfernt. Es handelt sich bei der Vorhaut um ein hochsensibles Körperteil mit klaren Funktionen. Es schützt die Eichel und spielt eine wichtige Rolle für das sexuelle Lustempfinden des Mannes. Insbesondere in den USA wurde die Beschneidung deshalb auch als Mittel gegen die angeblich für die geistige Entwicklung gefährliche Masturbation etabliert.

Weil der Eingriff sehr schmerzhaft ist, empfehlen manche muslimische Ärzte inzwischen, die Beschneidung möglichst früh vorzunehmen. Allerdings empfinden auch Säuglinge Schmerzen und müssen lokal anästhesiert werden. Salben oder Zäpfchen reichen dazu nicht aus, wie eine australische Studie kürzlich berichtet hat. Deshalb ist es auch problematisch, wenn es einem Nichtarzt erlaubt sein soll, Jungen in den ersten sechs Monaten zu beschneiden. Ein solcher Beschneider darf laut Arzneimittelgesetz keine Betäubung vornehmen. Hier klafft eine Lücke im Gesetzentwurf der Bundesregierung, wie der Jurist Reinhard Merkel, Mitglied des Deutschen Ethikrats, feststellt.

Ob Beschneidungen dem Kindeswohl dienen, weil sie möglicherweise das Infektionsrisiko mit bestimmten Krankheitserreger herabsetzen, ist umstritten. Außerdem ist der Eingriff selbst nicht ohne Risiken. So kann es zum Beispiel zu Infektionen kommen, wie kürzlich Wolfram Hartmann, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, berichtete.

Die soziale und religiöse Dimension

Ein völlig anderer Apsekt des Kindeswohls hängt mit der Stellung des Individuums in einer bestimmten Gruppe zusammen. So ist es für Muslime eine religiöse Pflicht, dass Kinder beschnitten werden. Das unbeschnittene Kind würde demnach vor den Augen der übrigen - gläubigen - Muslime gewissermaßen einen Makel tragen. Ilhan Ilkilic, Mitglied des Deutschen Ethikrates, betont außerdem die soziale Dimension des Rituals. Es handele sich dabei um den Übergang von der Kindheit zur Adoleszenz. "Danach nimmt der beschnittene Junge intensiver am religiösen Leben teil und übernimmt Aufgaben und Verantwortung." Das passt allerdings nicht mit dem Vorschlag zusammen, die Kinder, die ja normalerweise auch lange vor dem tatsächlichen Beginn der Adoleszenz beschnitten werden, noch früher zu operieren.

Für Juden bedeutet die Beschneidung zum einen das Eingehen eines Bundes mit Gott. Wird dies dem Kind vorenthalten, indem man auf die Beschneidung verzichtet, so verhindert man gläubigen Juden zufolge, dass sie ein göttliches Geschenk erhalten. Außerdem gibt es einen sozialen Druck, da viele Äußerungen von prominenten Juden den Eindruck erwecken, mit Vorhaut sei man kein richtiger Jude.

Manche Gläubige sind deshalb besorgt, dass nicht beschnittene jüdische und muslimische Kinder der Gefahr der Stigmatisierung unterliegen, was das Kindeswohl beeinträchtigen könnte. Eine Stigmatisierung geht jedoch von der Gruppe aus, nicht vom Betroffenen. Es sind demnach auch die Gruppen, die diese Stigmatisierung verhindern könnten.

Wie leider zu erwarten war, haben sich unter jene, die die religiöse Beschneidung von Säuglingen und Kindern kritisieren, auch Menschen gemischt, denen man Populismus, Antisemitismus, eine Ablehnung von Muslimen sowie mangelnde Toleranz und Akzeptanz Andersdenkender und der Religionsfreiheit nachsagen kann. Auch manche Kommentare und Leserbriefe spiegeln dies wider.

Diejenigen, die die rituelle Beschneidung verteidigen, weisen fast immer auf diese Tatsache hin. Dadurch ist allerdings der Eindruck entstanden, dass sie der Gegenseite solche Einstellungen mehr oder weniger pauschal unterstellen.

Das wird den meisten Kritikern der religiösen Beschneidung, die sich öffentlich geäußert haben, allerdings nicht gerecht. Die Debatte ausgelöst haben Kölner Richter, die das Ritual als Straftat beurteilt haben. Unter Juristen wird das Thema bereits seit einigen Jahren diskutiert - und zwar streng vor dem Hintergrund der Gesetze, die hier zu einem Konflikt führen. Ausgangspunkt ist das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit. Die Kölner Richter hatten sich der in der "strafrechtlichen Literatur herrschenden Meinung" angeschlossen: "Die Beschneidung entspreche nicht dem Wohl des nicht einwilligungsfähigen Knaben", wie die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages feststellten.

Die Richter am Kölner Landgericht - und viele andere Juristen - stellen dieses Kindeswohl und die individuelle Religionsfreiheit des Kindes über die Religionsfreiheit der Eltern und deren Recht auf religiöse Erziehung. Da die Juristen mit dem deutschen Grundgesetz und dem Strafgesetzbuch argumentieren, gibt es vordergründig keinen Anlass, eine antisemitische oder antimuslimische Gesinnung zu unterstellen.

Zu den Kritikern gehören auch Ärzte, die auf dem Standpunkt stehen, dass ein Körper nicht ohne medizinische Notwendigkeit operiert werden darf. Und aus dem Kreis der Psychologen gibt es Hinweise darauf, dass der Eingriff der Beschneidung für die Psyche nicht so harmlos ist, wie die Gläubigen behaupten. Beide Gruppen argumentieren vor dem Hintergrund der Ethik ihrer Berufe.

Eine ganze Reihe von Organisationen hat dazu aufgerufen, nicht gleich ein Gesetz zur Beschneidung zu verabschieden, sondern zwei Jahre darüber zu diskutieren, bevor eine Entscheidung getroffen wird. Es handelt sich um den Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, den Bund Deutscher Kriminalbeamter, MOGIS e. V. (Verband Betroffener sexuellen Kindesmissbrauchs), die Neue Richtervereinigung, den Bundesverband Terre de Femmes - Menschenrechte für die Frau, MANNdat e. V. - geschlechterpolitische Initiative und den Deutschen Pflegeelternverband.

62 Bundestagsabgeordnete der Linken, der Grünen und der SPD haben einen Gesetzentwurf eingebracht, nach dem eine Beschneidung erst ab dem 14. Lebensjahr und mit Einwilligung des Jungen erlaubt sein soll. Außerdem gibt es auch Juden und jüdische Organisationen, die sich gegen die Beschneidung aussprechen.

Allen diesen Menschen und Organisationen kann man kaum pauschal Antisemitismus oder Antiislamismus vorwerfen. Auch ist hier nicht das "geifernd-fanatische Eintreten für eine Freiheit von Religion" zu finden, dass etwa die Rabbinerin und Ärztin Antje Yael Deusel im Deutschen Ärzteblatt beklagte.

Die große Empörung unter Muslimen und Juden - das müssen Gegner der religiösen Beschneidung zur Kenntnis nehmen - spiegelt das Ausmaß ihrer Betroffenheit wider. Das Kölner Urteil muss aus ihrer Perspektive zuerst einmal falsch sein. Und natürlich ist die Diskussion heikel, weil es die Phänomene des Antisemitismus und der Fremdenfeindlichkeit gibt und Deutschland hier in einer besonderen Verantwortung steht.

Die Argumente der Kritiker richten sich jedoch nicht gezielt gegen bestimmte Gruppen, sondern gegen einen bestimmten Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindes. Es ist allerdings so, dass Muslime, Juden und bestimmte christliche Gruppen von dem Urteil betroffen sind und sich von der darin enthaltenen Kritik diskriminiert fühlen.

Immer wieder wird den Kritikern vorgeworfen, sie würden sich für die Freiheit der Gesellschaft von Religion starkmachen. Auch sagte etwa der Theologe und UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, Heiner Bielefeld, in der SZ, in der Diskussion um die Beschneidung würden sich Skepsis, Vorbehalte und Ressentiments gegen Juden und Muslime mit dem Deckmantel der Moderne und Aufklärung "tarnen".

Allerdings findet sich bei den Kritikern der Beschneidung immer und deutlich der Hinweis darauf, dass die Religionsfreiheit die Freiheit bedeutet, sich für eine Religion zu entscheiden und diese ausleben zu können - oder aber für ein Leben frei von Religion. Durch die religiöse Beschneidung trägt der Betroffene ein körperliches, unveränderliches Merkmal, ohne die Möglichkeit einer eigenen Entscheidung gehabt zu haben. Das gilt nicht nur für jüdische Jungen, die mit acht Tagen beschnitten werden, sondern sicher auch für Muslime, denen meist noch vor der Pubertät ein großer Teil der Vorhaut entfernt wird.

Die Beschneidungskritiker fordern also eigentlich nichts Neues ein, sondern lediglich, dass die Früchte der Aufklärung, die sich in unseren Gesetzen niedergeschlagen haben, für alle gelten müssen - auch für die Kinder religiöser Eltern. Errungenschaften wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit sollen niemandem vorenthalten werden. Auch nicht einem Kind.

Juden und Muslime befürchten, dass ihre Religionsfreiheit eingeschränkt wird. In gewissem Sinne haben sie damit recht.

Aber man muss unterscheiden zwischen dem Recht religiöser Gemeinschaften, Rituale auszuüben, und dem Rechten des Individuums, sich für oder gegen eine Religion zu entscheiden. Tatsächlich wurde der Wert des Individuums, seine Rechte als Mensch unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder sexuellen Vorlieben nach und nach immer höher gewichtet. Heute haben wir (dank der Aufklärung, nicht dank eines religiösen Glaubens) Religionsfreiheit. Wenn religiöse Rituale einer Gemeinde in Verdacht stehen, die Religionsfreiheit des Einzelnen zu beeinträchtigen, ist die Frage, welche Freiheit vorgeht. Und wer sich später gegen eine Religion entscheidet, hat nach der Beschneidung keine Möglichkeit mehr, diese religiöse Markierung, die ihm aufgezwungen wurde, zu entfernen.

Im sogenannten Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgericht von 1995 haben die Richter erklärt: "... zu unterscheiden ist aber eine vom Staat geschaffene Lage, in der der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist. Insofern entfaltet Art. 4 Abs. 1 GG seine freiheitssichernde Wirkung gerade in Lebensbereichen, die nicht der gesellschaftlichen Selbstorganisation überlassen, sondern vom Staat in Vorsorge genommen worden sind (vgl. BVerfGE 41, 29). Dem trägt auch Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 4 WRV dadurch Rechnung, dass er ausdrücklich verbietet, jemanden zur Teilnahme an religiösen Übungen zu zwingen."

Es kann wohl davon ausgegangen werden, dass acht Tage alte Säuglinge sich dem Eingriff entziehen würden, wenn sie könnten. Fraglich ist auch, ob sich viele muslimische Jungen mit dem Gefühl beschneiden lassen, sie hätten eine Wahl gehabt. Der Druck der Glaubensgemeinschaft ist hoch. Mancher Kritiker sieht hier die Grenze zum Zwang bereits überschritten.

Diese Annahme scheint etwas für sich zu haben. Bei unzureichender Hygiene können sich unter der Vorhaut Keime ansammeln und die Gefahr von Infektionen oder der Übertragung von Krankheiten beim Sex erhöhen. Es wird diskutiert, ob die Beschneidung unter Juden und Muslimen ursprünglich aus Hygienegründen - insbesondere in trockenen Regionen - eingeführt und sekundär religiös begründet wurde. Unter Fachleuten herrscht jedoch keine Einigkeit darüber, ob Jungen grundsätzlich beschnitten werden sollten.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt die Beschneidung für Regionen mit hoher HIV-Infektionsgefahr, etwa in afrikanischen Ländern wie Kenia, Uganda und Südafrika. In den USA rät die Organisation der Kinderärzte (American Academy of Pediatrics) zur Beschneidung - unter anderem ebenfalls wegen der Erfahrungen mit HIV in Afrika. Aber auch das Risiko für Infektionen und Peniskrebs (Peniskarzinom) sei unter Unbeschnittenen höher.

In Europa und Australien wird sie dagegen nicht empfohlen - im Gegenteil: Es gibt heftigen Widerspruch gegen die Haltung der US-Kollegen. Dagegen betonen Ärzte hier eher, dass ein gesunder Körper nicht operiert werden sollte. (Eine Ausnahme ist zum Beispiel die Behandlung extrem abstehender Ohren.) Anstatt Kindern die Vorhaut zu entfernen, könnte man ihnen auch beibringen, sich oft und gut genug zu waschen.

Wer sich auf die WHO beruft, die die Beschneidung zur Vorbeugung von HIV-Infektionen empfiehlt, sollte berücksichtigen, dass diese Empfehlung sich ausschließlich auf das südliche und östliche Afrika bezieht. Grundlage der Empfehlung sind drei Studien aus Kenia, Südafrika und Uganda, die zeigen, dass die Operation dort die Infektionsgefahr senkt.

Auf der anderen Seite hat die Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung (USAID) 2009 in einem Bericht von der Johns Hopkins University in Baltimore und einem anderen Institut, darauf hingewiesen, dass in nur acht von 18 untersuchten Ländern beschnittene Männer seltener mit HI-Viren infiziert waren als unbeschnittene. Diese waren Burkina Faso, Kambodscha, Elfenbeinküste, Äthiopien, Ghana, Indien, Kenia und Uganda. In den zehn anderen Ländern war es genau umgekehrt: In Kamerun, Guinea, Haiti, Lesotho, Malawi, Niger, Ruanda, Senegal, Tansania und Simbabwe ist der Anteil von HIV-Infizierten unter den beschnittenen Männern relativ gesehen höher. So eindeutig, wie es häufig dargestellt wird, ist der Zusammenhang demnach nicht.

Die Antwort auf diese Frage können nur Juden und Muslime selbst geben. Die meisten, die sich öffentlich geäußert haben, betonen, nicht auf die Beschneidung von Kindern verzichten zu können. Aber wenn man Geschichte und Kultur der Juden und Muslime betrachtet, überrascht es, dass sie sich so sicher sind.

Juden

Zum Judentum gehören neben der Religion die Kultur, die Tradition und die Geschichte des jüdischen Volkes. Das Ritual der Beschneidung hat seinen Ursprung in einer Stelle der hebräischen Bibel (Tanach), dem ersten Buch Mose (Genesis), wo Gott sagt, er werde einen Bund mit Abraham und dessen Nachkommen eingehen. Das Zeichen dieses Bundes soll der Bibel zufolge sein, dass jeder männliche Säugling im Alter von acht Tagen beschnitten wird.

Als jüdisch gilt allerdings auch jedes Kind, das von einer jüdischen Mutter geboren wird. Die Frage ist also, ob Juden sich vor allem über den Glauben an einen Gott und an einen besonderen Bund mittels Beschneidung definieren, oder über die Volkszugehörigkeit aufgrund der Abstammung.

Es gibt etliche Juden, die an den Gott der Bibel nicht glauben, und die demnach auch keinen Bund mit ihm eingehen wollen. Trotzdem identifizieren sie sich mit dem jüdischen Volk und werden von diesem auch nicht ausgeschlossen. Es gibt auch Juden, die ihre Kinder nicht beschneiden lassen - und der Nachwuchs gehört weiterhin dem jüdischen Volk an. Manche Juden haben das Beschneidungsritual Brit Milah durch ein anderes mit dem Namen Brit Schalomersetzt, bei welchem die Vorhaut des Säuglings nicht abgeschnitten wird.

Diskutiert wurde die Frage nach der Notwendigkeit der Beschneidung im Judentum bereits im 19. Jahrhundert unter den Juden in Deutschland. So gab es zum Beispiel den - kleinen - Frankfurter Verein der Reformfreunde, die bereits damals überzeugt davon waren, dass die Beschneidung keine Bedingung des Judentums sei. 1843 wurde in Frankfurt der Vorschlag eines Bar Amithai (Pseudonym) veröffentlicht, die Beschneidung durch eine andere Zeremonie zu ersetzen. Und in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung war es zum Judentum konvertierten Männern freigestellt, sich beschneiden zu lassen.

Die Erklärungen, ohne Beschneidung gebe es kein Judentum (Dieter Graumann vom Zentralrat der Juden) oder die Beschneidung sei die Wurzel der jüdischen Seele (Israels Oberrabbiner Yoni Metzger), sind vor diesem Hintergrund fragwürdig.

Es scheint so zu sein, dass die Beschneidung als Teil des Judentums nicht für alle Juden völlig unverzichtbar ist, sondern nur für jene, die fest an einen Bund des jüdischen Volkes mit Gott glauben, die überzeugt sind, dass Abraham tatsächlich existierte - was Historiker bezweifeln - und die die entsprechende Stelle im Tanach im Gegensatz zu vielen anderen Passagen wörtlich nehmen.

Auch gläubige Juden halten übrigens nicht daran fest, dass ein Säugling unbedingt am achten Tag beschnitten werden muss. "Triftige Gründe" können dem Zentralrat der Juden zufolge rechtfertigen, das Ritual zu verschieben. Das können zum Beispiel gesundheitliche Faktoren sein.

Muslime

Im Koran gibt es kein Gebot der Beschneidung. Die Muslime betrachten jedoch zum einen ebenfalls Abraham (Ibrahim) als ihren Stammvater, der sich der Bibel zufolge selbst beschnitten hat. Außerdem gibt es zum Beispiel einen Bericht des islamischen Gelehrten al-Buchari, der mehr als zweihundert Jahre nach Mohammed lebte. Al-Buchari zitierte einen der Gefährten des Propheten, Abu Huraira, der wiederum Mohammed zitierte. Demnach hätte Mohammed die Beschneidung als eines von fünf Dingen beschrieben, die zur Natur des muslimischen Menschenbildes gehören. Ilhan Ilkilic zufolge, einem Mitglied des Deutschen Ethikrates, gibt es weitere "zahlreiche Prophetenaussprüche, die das Thema Beschneidung von Jungen zum Gegenstand haben und diese für die Muslime als religiöse Pflicht erklären".

Dazu kommt die Bedeutung des Rituals im muslimischen Gemeinschaftsleben. Die Beschneidung markiert laut Ilkilic den Übergang von der Kindheit zur Adoleszenz, die auch mit neuen Rechten und Pflichten verbunden ist. Allerdings werden muslimische Kinder meist bereits im Alter von bis zu zehn Jahren beschnitten - also nicht erst beim Übergang zur Jugend. Dem deutschen Gesetz über die religiöse Kindererziehung zufolge steht dem Kind die Entscheidung über das eigene religiöse Bekenntnis nach der Vollendung des vierzehnten Lebensjahres zu. Da es im Islam keine Vorschrift für einen bestimmten Zeitpunkt der Beschneidung gibt, stellt sich die Frage, ob Muslime die Entscheidung über das Ritual nicht - dem Gesetz entsprechend - dem Jugendlichen überlassen könnten, zugleich mit seiner Entscheidung zur Religion überhaupt.

Eine weitere Frage, mit der sich alle Gesellschaften vor diesem Hintergrund beschäftigen müssten, ist: Wie geht man mit jenen um, die eigentlich dazugehören - aber nicht beschnitten sind? Werden sie ausgegrenzt? Und muss das so sein? Berichte aus Israel deuten darauf hin, dass unbeschnittene Männer dort nicht diskriminiert werden.

Die Debatte ist gar nicht so neu. Unter Juristen findet sie auch in Deutschland bereits seit längerer Zeit statt. Und die deutschen Juden diskutierten zum Beispiel im 19. Jahrhundert darüber, nachdem es zu Todesfällen nach Beschneidungen gekommen war. Das Sanitär-Amt der Freien Stadt Frankfurt hatte deshalb die Verordnung erlassen, dass der Eingriff nur noch von Experten und in Gegenwart eines Arztes vorgenommen werden durfte.

In Israel und den USA existieren seit Jahren Organisationen von Juden, die das Ritual abschaffen wollen. In Schweden und Finnland wurde die Beschneidung bereits vor Jahren gesetzlich geregelt.

Im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung existierte das Thema dagegen lange Zeit tatsächlich so gut wie nicht. Vielleicht deshalb, weil man als Nichtbetroffener davon nicht viel mitbekommt. Es braucht aber häufig einen konkreten Anstoß, um eine Diskussion auszulösen. Das bedeutet nicht, dass die Debatte deshalb unangemessen wäre. Wieso war Sex unter homosexuellen Männern in Deutschland so lange eine Straftat? Weshalb durften Kinder bis vor einigen Jahren noch gezüchtigt werden? Wieso wurde das Frauenwahlrecht in Deutschland erst Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführt? Zuvor wurde jahrelang über diese Dinge diskutiert. Heute fragt man sich, wieso.

Mit dem gleichen Recht, mit dem man fragt, wieso ausgerechnet jetzt gestritten wird, könnte man die Frage auch umkehren: Wieso ist nicht schon viel früher ein Gericht in Deutschland über den Konflikt gestolpert. Denn es ist ein schwerer Konflikt, wenn auf der einen Seite das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes und das individuelle Recht auf Religionsfreiheit steht, und auf der anderen das Recht auf religiöse Erziehung und Religionsfreiheit der Eltern.

© Süddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: