Debatte um die Beschneidung:"Dieses Ritual widerspricht meinen jüdischen Werten"

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Es wäre zutiefst beklagenswert, wenn die Beschneidung von minderjährigen Jungen in Deutschland legalisiert würde, sagt der jüdische Filmemacher Victor S. Schonfeld. Der Brite hat die Risiken des Rituals im Film "It's A Boy!" dokumentiert. Nun appelliert er an die Bundestagsabgeordneten, die Beschneidung ohne medizinische Gründe nicht zu erlauben.

Ein Gastbeitrag von Victor S. Schonfeld

Victor S. Schonfeld ist ein britischer Dokumentarfilmer und Jude, der vor allem mit "The Animals Film" - eine Dokumentation zum Umgang des Menschen mit den Tieren - bekannt geworden ist. Auf dem britischen Sender Channel 4 lief 1995 seine Dokumentation "It's A Boy!", für den Schonfeld jüdische und muslimische Gläubige und Experten interviewte, das Ritual der Beschneidung filmte - und dann mitverfolgte, welche gefährlichen Folgen der Eingriff für den Jungen in diesem Fall hatte. Der Film löste in Großbritannien heftige Diskussionen aus. Schonfeld hat die Dokumentation, die es inzwischen mit deutschen Untertiteln gibt, den Abgeordneten des Bundestages zur Verfügung gestellt, damit diese sich ein Bild von dem Ritual und seinen Risiken machen können.

Der Bundestag will in den kommenden Tagen über einen Gesetzentwurf entscheiden, der das Ritual der Knabenbeschneidung in Deutschland straffrei machen würde. Sollte dieser Entwurf der Bundesregierung, der es Eltern erlaubt, ihre minderjährigen Söhne beschneiden zu lassen, angenommen werden, so wäre das tief beklagenswert. Ich sage dies als jüdischer Vater, dessen Vorfahren stolze Rabbiner waren und dessen Verwandte teilweise im Holocaust ums Leben kamen. Ich sage es auch als Filmemacher der britischen Fernsehdokumentation "It's a Boy!".

File photo of Jewish man holding his baby son before his circumcision in Jerusalem

Die Beschneidung von männlichen Neugeborenen ist für die meisten Juden ein Ritual, auf das sie nicht verzichten wollen. Einige Juden plädieren jedoch dafür, es abzuschaffen, weil es ihrer Meinung nach nicht notwendig ist - und gefährlich.

(Foto: REUTERS)

Diese vor einigen Jahren im britischen Fernsehen ausgestrahlte Dokumentation stellte einen Tabubruch dar: Sie zeigte erstmals einer breiten Öffentlichkeit, wie das Ritual ausgeübt wird, und schuf ein Bewusstsein für die Problematik der Komplikationen, zu denen es dabei kommen kann - und deren Zahl im Dunkeln liegt. Der Film machte deutlich, wie ein in der jüdischen und muslimischen Kultur tief verwurzelter Brauch - ein überlieferter "göttlicher Befehl" - bei den Betroffenen bis heute regelmäßig für großes Leid, Verletzungen und Verstümmelung sorgt und sogar bis zum Tod führen kann.

In Großbritannien sorgte der Film für Aufruhr, weil er dokumentierte, wie ein Baby nach der Beschneidung durch einen Mohel, einen jüdischen Fachmann für den Eingriff, nur knapp dem Tod entging. Der Junge hatte bei dem Eingriff eine schwere Infektion erlitten. Der Vater, selbst kein Jude, war bei der Beschneidung nicht dabei gewesen und war danach verzweifelt, weil er sie nicht verhindert hatte. Der Vorfall muss für die Eltern eine extreme Belastung gewesen sein. Wie mag es deutschen Paaren ergehen, wenn die Beschneidung durch das Gesetz geradezu geschützt wird und Eltern sich über das Ritual nicht einig sind?

Diffamiert als "Jude voller Selbsthass"

Ich hatte gehofft, dass der Film der Anfang vom Ende der Knabenbeschneidung in Großbritannien sein würde. Stattdessen denunzierten Rabbiner die Dokumentation überall im Land als "Film eines Juden voller Selbsthass" und legten Eltern nahe, ihn zu ignorieren.

Mir war schon damals klar, dass Informationen allein keine Veränderung in der Gesellschaft bewirken können, sondern dass hier die Regierung hätte Stellung nehmen müssen. Enttäuscht war ich jedoch von der Tatsache, dass gerade meine jüdische Herkunft der Auslöser von Kontroversen und hitzigen Debatten war.

Nun freut sich meine zwölfjährige Tochter auf ihre Bat-Mizwa, mit der sie in der jüdischen Gemeinde das Erreichen der Volljährigkeit feiern wird. Eine Erklärung des israelischen Oberrabbiners Yona Metzger hat nun einige Fragen bei ihr aufgeworfen. Der Rabbi hat kürzlich die Beschneidung zur "Wurzel der jüdischen Seele" erklärt. "Ein religiöser Brauch nur für Jungen?", will sie wissen. "Eine Amputation ohne Betäubung? Nicht in einem Krankenhaus vorgenommen und noch dazu von Personen, die keine Ärzte sind? Wie kann dies die Wurzel der jüdischen Seele sein und noch dazu im Jahre 2012?"

Ich versuche ihr zu erklären, dass man bedauerlicherweise häufig gezwungen wird, in Unwissenheit zu handeln. So ging es mir und meiner Frau, als wir regelrecht dazu gedrängt wurden, unseren Sohn, ihren älteren Bruder, beschneiden zu lassen. Erst als wir Zeugen seiner Schmerzen und Qualen wurden, wurde uns bewusst, dass man uns gedrängt hatte, unsere Rolle als Beschützer zu verraten.

Ich erkläre meiner Tochter, dass es immer wieder zu Komplikationen kommt, die vertuscht werden. Zwar gibt es für kein einziges Land offizielle Zahlen, aber eine Analyse von Dr. Ronald Goldman von der gemeinnützigen US-Organisation "Jewish Circumcision Resource Centre", deutet darauf hin, dass bei den Millionen Beschneidungen, die jährlich vorgenommen werden, mit mehr als 600.000 solcher Fälle zu rechnen ist. Das bedeutet, dass Tausende Kinder unter Blutungen, Infektionen oder anderen Komplikationen zu leiden haben, etliche hundert sind von lebensbedrohlichen Folgen betroffen - und das jeden Tag.

Aus dem Stammbaum gelöscht

Ich erkläre meiner Tochter auch, dass in den jüdischen Gemeinden zwar nur selten davon gesprochen wird, doch es kommt immer wieder zu Todesfällen, egal, ob der Eingriff von einem Mohel oder einem Doktor vorgenommen wird. Fachleute wie Dr. Goldman sind verständlicherweise zurückhaltend, wenn es darum geht, die Zahl solcher Fälle einzuschätzen. Aber es braucht nur den gesunden Menschenverstand eines besorgten Laien, um zu begreifen, dass weltweit täglich ein oder mehrere Kinder an den Komplikationen nach einer Beschneidung sterben.

Nur ein kleiner Teil dieser Todesfälle kam bislang an die Öffentlichkeit. Wie soll man die wahre Zahl der Todesopfer herausfinden, wenn solche Fälle aus den Stammbäumen jüdischer Familien gelöscht wurden, wie meine Dokumentation zeigt? In den antiken Zeiten des talmudischen Judentums erlaubten die Gelehrten einer jüdischen Mutter auf die Beschneidung eines Sohnes zu verzichten, wenn sie bereits drei ihrer Kinder durch das Ritual verloren hatte. Wann hat das Schweigen über die Opfer, die die Beschneidung forderte, den offenen Umgang damit ersetzt? Das wäre eine interessante Frage für Sozialwissenschaftler.

Ich erzähle meiner Tochter von meiner Fernsehdokumentation über die Züchtigung von Kindern und wie ich Deutschland und Israel applaudierte, die zu den ersten Ländern gehörten, in denen das Schlagen von Kindern gesetzlich verboten wurde. Es erscheint mir ganz und gar widersprüchlich, dass ausgerechnet diese Länder eine Tradition schützen wollen, die routinemäßig mehr Leid und Schaden zufügt als Schläge.

Es sollte sich auch niemand die USA zum Vorbild nehmen, wo noch immer Millionen von männlichen Säuglingen beschnitten werden. In den Vereinigten Staaten dürfen Eltern ihre Kinder nach wie vor schlagen. Und die Verhältnisse im Gesundheitssystem führen dazu, dass es für Ärzte ein lukrativer Nebenerwerb ist, Jungen zu beschneiden, unabhängig von ihrer Religion oder Herkunft.

Dass die American Academy of Paediatrics, der amerikanische Fachverband der Kinderärzte, sich kürzlich entschlossen hat, die Beschneidung zu empfehlen, ist vor diesem Hintergrund keine Überraschung. Außerdem wurde die Zusammensetzung des verantwortlichen Gremiums von vielen Kritikern als befangen bezeichnet, da die Experten selbst beschnitten waren oder als Ärzte seit Jahren selbst routinemäßig diesen Eingriff vornehmen. Vor einigen Jahrzehnten wurden fast 80 Prozent der männlichen Säuglinge in den USA beschnitten, heute ist es nur noch jeder zweite. Angesichts dieses Rückgangs gibt es Zweifel daran, ob diese Experten die richtige Wahl waren, um die wissenschaftlichen Daten neutral zu bewerten. Würden sie nicht geneigt sein, die Gelegenheit zu nutzen, einen historischen Wandel aufzuhalten?

Im Kölner Beschneidungsurteil wurde der Eingriff zu Recht als Körperverletzung des Kindes eingestuft. Es handelt sich um die Amputation eines gesunden, empfindlichen Körperteils, für die es weder eine medizinische Indikation noch eine Einwilligung des Patienten gibt. Die ihrem Gewissen verpflichteten Abgeordneten des Bundestages sollten keinen Brauch unterstützen, der so offenkundig gegen die Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention verstößt.

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