Menschheitsgeschichte:Der erste Brexit

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Die Jagd auf Mammuts war wichtig für die Ausbreitung der Menschen. (Foto: Illustration: akg/North Wind Picture Archive)
  • Vor 12 000 Jahren existierte in der Nordsee eine riesige Landfläche: Doggerland.
  • Vor etwa 8000 Jahren versank sie im Meer.
  • Heute lassen Archäologen, Geologen und Geophysiker diese alte Welt wiederauferstehen, um etwas über die untergegangene Kultur, aber auch den Klimawandel zu lernen.

Von Hubert Filser

Die graue Nordsee schäumt so wild, dass sie den Blick auf die verschwundene Welt in der Tiefe verwehrt. Stellenweise ist das Meer über der Doggerbank nur 13 Meter tief. Selbst bei klarem Wasser würde man nur einen Teppich aus Sand und Sedimenten sehen, der sich vor mehr als 8000 Jahren über das alte Land dort unten gelegt hat. Vergraben unter dem kalten Meer liegt das Atlantis der Nordsee, eine riesige, geheimnisvolle Landschaft, die einst Jäger und Sammler der Jungsteinzeit durchstreiften.

Mithilfe meterlanger Bohrkerne vom Meeresgrund, seismischer Kartierungen von Spezialschiffen und komplexer Modellierung der Unterwasserlandschaften des Nordseebeckens lassen Archäologen, Geologen und Geophysiker nun diese alte Welt wiederauferstehen.

Funde von Fischern und Grabungen in den heutigen Flachuferregionen an der britischen, holländischen und belgischen Küste wie jüngst beim Ausbau des Hochseehafens in Antwerpen ergänzen das Bild. Doggerland nennen die Forscher diese untergegangene Welt, benannt nach der Doggerbank, einer Sandbank in der Nordsee. Es ist das alte Herz Europas, verschlungen vom steigenden Meer.

Nur die Insel Helgoland ragt heute noch als sichtbarer Rest aus dem Wasser. "Helgoland bot damals als gut sichtbarer, rot leuchtender Sandsteinfelsen inmitten einer weiten Graslandschaft einen sicherlich imposanten Anblick, ähnlich dem Ayers Rock im heutigen Australien", sagt die Archäologin Ursula Warnke, die im Rahmen des Forschungsnetzwerks "Splashcos" Doggerland untersuchte. Von weit her, vom heutigen Großbritannien, Frankreich, Belgien, Dänemark und Deutschland kamen die Steinzeitjäger einst hierher zu Fuß, denn es gab ein weltweit einzigartiges Vorkommen an rostrotem Feuerstein direkt bei den Felsen.

Eine mehr als 100 000 Quadratkilometer große Region mit Höhenzügen, Flüssen und Tälern zeichnet sich noch heute im Meeresgrund ab, rund die Hälfte ist bislang erfasst. Nach dem Ende der Eiszeit vor etwa 11 700 Jahren erstreckte sich Doggerland als zunehmend grüne, hügelige Landschaft mit weiten Ebenen, Flüssen und Seen von Nordengland bis hinüber zur Nordspitze Dänemarks. Sie war eins mit dem Rest des europäischen Kontinents, rekonstruierte der britische Landschaftsarchäologe Vincent Gaffney von der Universität von Bradford.

Damals lagen die Küsten noch 120 Meter tiefer. Dann schmolzen die Gletscher im Norden, die Meere stiegen, ein bis zwei Meter pro Jahrhundert. Brackwasser schob sich immer weiter ins Land, erste Wattflächen entstanden. Zwischen der englischen Küste und der Doggerbank drang das Meer immer weiter vor. Doggerland wurde zur Insel, bis es vor 8000 Jahren nach einem dramatischen Erdrutsch, dem sogenannten Storegga-Ereignis, schwer getroffen im Meer verschwand. Damit war auch der erste Brexit vollzogen: Großbritannien ist seitdem eine Insel.

Das prähistorische Herz Mittel- und Nordeuropas war verschwunden. Das veränderte die Entwicklung vieler Gesellschaften. "Doggerland ist der Schlüssel zum Verständnis des Mesolithikums in Nordeuropa", sagt der Archäologe Gaffney. Wer nach den Spuren des untergegangenen Landes sucht, fahndet gleichzeitig nach Europas verlorenen Grenzen. Deshalb nennt sich das aktuelle Projekt britischer und belgischer Forscher auch Europe's Lost Frontiers.

Die Wissenschaftler wollen etwas über den Klimawandel und rasant steigende Meeresspiegel lernen, über gewaltige Flusstäler der alten, mächtigen europäischen Ströme. Die Elbe floss noch vor 12 000 Jahren weit im Norden auf der Höhe der heutigen schottischen Lowlands ins Nordmeer. Die Themse endete nicht im Ärmelkanal, sondern schloss sich dem Rhein an, der im Westen auf der Höhe der Bretagne in den Atlantik mündete.

Lange Zeit nahmen Archäologen keine Notiz von dieser Welt. Dabei fanden sich vorwiegend vor der niederländischen und südenglischen Küste immer wieder Knochen von Mammuts oder Auerochsen in den Fischernetzen. Im Jahr 1931 entdeckte der britische Fischtrawlerkapitän Pilgrim Lockwood ein seltsames Objekt in seinem Schleppnetz: eine 21 Zentimeter lange Geweihspitze mit einer seitlichen Reihe von Einkerbungen, die wie Widerhaken aussahen - offensichtlich eine Harpunenspitze. Archäologen schätzten sie auf ein Alter von etwa 11 000 Jahren und sahen sie als Beleg dafür, dass die Menschen damals in einer Landschaft voller Sümpfe, Flüsse und zumindest einem großen See jagten und fischten.

Geschichten und Mythen gab es schon früher. 1897 berichtete der britische Schriftsteller H. G. Wells in seiner Kurzgeschichte "A Story of the Stone Age" über eine Landverbindung zwischen England und Frankreich: "Diese Geschichte handelt von einer Zeit jenseits der Erinnerung der Menschen, einer Zeit, in der man möglicherweise trockenen Fußes von Frankreich (wie wir es heute nennen) bis nach England gehen konnte, und in der eine breite und träge dahinfließende Themse durch Sümpfe strömte, um ihrem Vater Rhein zu begegnen, der durch ein weites und flaches Land floss, das in diesen letzten Tagen unter Wasser steht und das wir heute als die Nordsee bezeichnen."

Genau dieses Bild bestätigte Vincent Gaffney mit seinen seismischen Messungen des Meeresuntergrunds ein Jahrhundert später. Die ersten Pilotstudien begannen im Jahr 2002. Die britischen Forscher rekonstruierten zunächst die Landschaft auf der Größe eines Fußballfelds und entdeckten gut zehn Meter unter dem Meeresboden ein altes Flussbett. Mittlerweile verzeichnet ihre Karte ein Gebiet von 45 000 Quadratkilometern, etwa halb so groß wie Irland.

Zwei Kampagnen Anfang Mai und Anfang September sollen den Forschern auch mithilfe von Bohrkernen aus Flachwasserzonen ein genaueres Bild der prähistorischen Landschaft ermöglichen. Sie wollen vor allem die Region um die Brown Bank im Ärmelkanal genauer untersuchen, eine Untiefe von 30 Kilometern Länge zwischen England und den Niederlanden. "Sollten sich tatsächlich Hinweise auf eine Siedlung finden, wäre das ein Durchbruch", sagt Gaffney. "Die Landschaft mit seinen herumziehenden Herden war für Gruppen von Jägern und Sammlern sehr attraktiv."

Die meisten archäologischen Objekte finden sich in dieser Region. Immer noch stammen sie meist von Schleppnetzfischern. Oder von dem holländischen Mammut-Experten Dick Mol, der seit mehr als fünfzig Jahren eiszeitlichen Tieren hinterherrecherchiert und dabei auch auf menschliche Spuren stößt - den ersten Kieferknochen etwa, datiert auf 11 500 Jahre. Am Brown-Bank-Projekt beteiligte belgische Forscher glauben, in den seismischen Daten ein Flusssystem und einen See entdeckt zu haben, an dessen Ufer es eine Siedlung gegeben haben könnte.

Sie könnte ein tieferes Verständnis der damaligen Kultur und ihrer Vernetzung mit dem Kontinent ermöglichen. Hinweise auf so ein Lager finden sich auch weiter westlich vor Southampton. In Untiefen nahe der Isle of Wight entdeckten Forscher Feuersteine, Reste einer hölzernen Behausung und eines Holzboots und sogar 8000 Jahre alte Reste von Einkorn - vielleicht sind es Spuren von Nomaden, die hier sesshaft wurden.

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So systematisch und international vernetzt können deutsche Forscher selten agieren. Hierzulande erforschen das Doggerland vor allem Geophysiker und Ingenieure vom Zentrum für Marine Umweltwissenschaften (Marum) der Universität Bremen. Die Marum-Wissenschaftler Daniel Hepp und Tobias Mörz interessieren sich vor allem für das Urstromtal der Elbe und ihrer Seitenarme. Sie setzen dabei auf Messungen mithilfe der sogenannten Reflexionsseismik.

Von Schiffen aus senden die Geophysiker Ultraschallwellen in die Tiefe und messen die Reflexionen. Mit Schallwellen im Bereich von 300 bis 500 Hertz können die Forscher weit mehr als 100 Meter tief in den Boden schauen. Je nach Dichte des Untergrunds und verwendeter Frequenz reflektiert der Meeresboden an Grenzschichten mal mehr, mal weniger des Signals. Sand aus dem Sediment etwa ist deutlich dichter als Torf aus den alten Flussauen. So ergeben sich klare akustische Kontraste bei den Messungen.

Die Bremer Forscher stießen so eher zufällig auf ein mäanderartiges Flusstal. Sie konnten die Struktur über Kilometer verfolgen und schließlich als ehemaliges Ems-Tal identifizieren. "Den Verlauf der Ems konnten wir in Teilen exakt rekonstruieren", sagt Daniel Hepp. Der Fluss mündete bis vor etwa 10 000 Jahren ins Elbe-Urstromtal und nicht wie heute ins Meer.

Ehemalige Flusstäler erlauben es den Forschern, den Einfluss von Meeresspiegelveränderungen auf Flusssysteme zu untersuchen. Als das Land überflutet wurde, füllte nämlich Sand schnell die Vertiefungen und versiegelte die darunter liegenden Torfschichten. Sie liefern im Ultraschall klare Signale und lassen sich gut datieren.

Auch das Elbe-Urstromtal ist im Untergrund teilweise gut erhalten. Das Flusstal war nach dem Ende der Eiszeit, als die Elbe noch weit oben im Norden ins Meer mündete, bis zu zehn Kilometer breit. "Es war zunächst eine Art geflochtenes, weites Flusssystem", sagt Tobias Mörz. Die Flüsse seien Transport- und Kommunikationswege gewesen, die Wildbeuter befuhren sie mit Einbäumen. Der Ingenieur vergleicht die Elbe mit dem Yukon im heutigen Kanada. "Das sind für uns Analogsysteme für die alten Flusslandschaften."

Über Pollen in Sedimentproben konnten die Forscher auch die Vegetation von Doggerland rekonstruieren. Die gegen Ende der Eiszeit vorherrschende Steppentundra wurde demnach vor rund 10 000 Jahren von einer grüneren Landschaft abgelöst. Birken-, Kiefer- und Espenwälder breiteten sich aus, später auch Laubwälder mit Ulmen, Eichen und Linden. Anstelle von Rentieren grasten nun Hirsche, Auerochsen und Wildschweine.

Die Elbe besaß zu dieser Zeit sehr viele Flussauen mit Mooren und Totarmen - und wich allmählich zurück. Wie so etwas im Detail passierte, erforschten die Marum-Wissenschaftler anhand der Ur-Ems. "Wir sehen anhand der in Sedimenten enthaltenen marinen Lebewesen, wie sich die Flussmündung vor rund 10 000 Jahren aufgrund des Meeresspiegelanstiegs in den Süden schob", erklärt Hepp. "Da das gesamte Nordseeschelf eher flach war, ging das relativ schnell. Der Fluss wurde regelrecht von Norden weggefressen." Das Meer kam und mit ihm der Sand. "Der Sand hat sich wie ein Sargdeckel über das alte Flusssystem gelegt", sagt Hepp.

Für einen flächendeckenden Scan des deutschen Doggerland-Bereichs fehlen den Forschern die Mittel. Eigentlich würden sie gern die Geschichte eines riesigen Eisstausees untersuchen, den es bereits während der letzten Eiszeit südlich der Doggerbank gegeben hat. Das Wasser konnte aufgrund des Eisschilds nicht nach Norden abfließen, sondern strömte wohl eher Richtung Osten ins Elbe-Urstromtal. "Das wird auf Karten des Doggerlandes oft falsch dargestellt", sagt Mörz. "Uns fehlen in vielen Regionen sowohl seismische Daten wie auch die tieferen Bohrkerne", ergänzt Hepp. "Dafür müssten wir von größeren Schiffen aus bohren können."

Stattdessen können die Forscher bislang oft nur Proben von Ölfirmen oder den Betreibern der Windparks auf der Doggerbank auswerten. "Ich träume davon, dass wir beim Sichten der Bohrkerne auf einen archäologischen Fund stoßen", sagt Hepp. "Aber das ist in etwa so, als hätte meine Großmutter in einem großen Garten einen Ring verloren und ich würde mit einem dünnen Bleistift in den Boden stochern und hoffen, ihn zu finden."

Zugleich bedrohen zunehmende industrielle Aktivitäten in der Doggerbank die alte Kulturlandschaft. "Es gibt für die ausschließliche Wirtschaftszone in der Deutschen Bucht keine verbindliche Regelung", sagt Ursula Warnke, Direktorin des Landesmuseums für Natur und Mensch in Oldenburg. "Wir bräuchten eine zuständige Stelle mit Archäologen, die bei einem Fund sofort informiert werden müssten. Wie an Land sollten vor jeder größeren Baumaßnahme wie Windparks oder Gasleitungen Archäologen das Gelände begutachten und Zeugnisse der Vergangenheit dokumentieren und sichern können."

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Denn vor allem das Ende von Doggerland und die Auswirkungen auf die Kultur sind immer noch wenig verstanden. Klar ist nur: Mit steigendem Meeresspiegel verloren die Wildbeuter immer mehr Land. "Sie müssen erlebt haben, dass ihr Lebensraum schnell immer kleiner wurde", sagt Mörz. "Das war eine Urerfahrung der Menschen, möglicherweise auch die Quelle für Legenden." Und der britische Kollege Vincent Gaffney ergänzt: "Das Meer stieg so schnell, dass die Menschen damals vermutlich wussten, dass das Land ihrer Vorfahren vom Meer verschlungen worden war." Das sei auch eine Warnung für heute.

Der Untergang von Doggerland nährt auch heute noch Zweifel, ob sich die großen Hafenstädte und die liegenden Küstenregionen einfach mit mächtigen Deichanlagen vor dem steigenden Meeresspiegel schützen können. Wenn dann noch - so wie vor 8150 Jahren als Folge der sogenannten Storegga-Rutschung - ein gewaltiger Tsunami über die Küsten fegt, kann es einer Region den Todesstoß versetzen.

Damals waren vor Norwegen auf einer Länge von einigen Hundert Kilometern etwa 3000 Kubikkilometer Schlamm aus den Flachwasserzonen abgerutscht und die steilen Unterseehänge hinabgestürzt. Bis zu 20 Meter hohe Flutwellen breiteten sich vorwiegend Richtung Grönland aus, fünf bis zehn Meter hohe Wellen erreichten Doggerland. Noch heute finden sich dort kilometerweit im Landesinneren Spuren der Katastrophe.

Wie die norwegischen Forscher Knut Rydgren und Stein Bondevik aufgrund von Moos- und Flechtenwachstum anhand der Sedimentschichten rekonstruierten, erwischte das Unglück die Bewohner im Spätherbst vor allem an den Küsten - mit dramatischen Folgen. "Für die, die den Tsunami überlebten, muss der Verlust und die Zerstörung von Behausungen, Booten, Ausrüstungsgegenständen und Vorräten den folgenden Winter sehr schwierig gemacht haben", schreiben die Forscher im Fachmagazin Geology.

"Die Menschen von Doggerland mussten einst vor dem steigenden Meer fliehen", sagt Vincent Gaffney. "Und wir müssen uns fragen: Wo werden wohl die Menschen in Bangladesch in hundert Jahren leben?"

© SZ vom 06.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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