Atomruine von Tschernobyl:Ein Käfig für die Bestie

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Die Atomruine von Tschernobyl bekommt ein neues Dach, das den Unglücksreaktor auf Jahrzehnte hinaus versiegeln soll. Ein Besuch vor Ort ist wie eine Zeitreise - der Meiler ist nicht die einzige üble Hinterlassenschaft sowjetischer Atomtechnik.

Von Patrick Illinger, Pripjat

Plötzlich ragt am Horizont ein metallisches Gewölbe über die Baumwipfel. Ein Fremdkörper, der aussieht, als hätten Außerirdische einen Hangar für Raumschiffe errichtet. Wie ein aus Platin geschmiedetes Tonnendach erhebt sich das Bauwerk über die unendlichen Birkenhaine dieser Weltgegend, die verlassenen, zugewachsenen Bauernhäuser, die rostenden Strommasten, und, je näher man kommt, über die Bürogebäude, Schlote, Kräne, Kühltürme - und die ehemaligen Reaktorblöcke des Kernkraftwerks Tschernobyl.

Der Katastrophenmeiler wirkt fast unscheinbar neben dem gewaltigen neuen Stahlgewölbe

Anderthalb Autostunden nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew beginnt eine Zeitreise in die Sowjetunion. Soldaten mit Kalaschnikows und Fellmützen bewachen eine Schranke, hinter der die 30-Kilometer-Sperrzone rund um die Atomruine beginnt. Einige Kilometer weiter tasten Männer in Tarnanzügen jedes Fahrzeug mit Geigerzählern ab. Das Kraftwerksgelände selbst ist ein überraschend großes Areal, durchzogen von einem fast idyllisch wirkenden Kanal mit Kühlwasser und einem unüberschaubaren Gewirr aus Gebäuden und Fahrwegen, deren Belag längst aufplatzt. Gestrüpp wuchert zwischen den Asphaltflächen, Transformatorhäuschen verfallen, Gleise führen ins Nirgendwo. Zwischen Schloten, Hallen und Gerüsten wirkt der Reaktorblock Nummer 4 des einstigen Wladimir-Iljitsch-Lenin-Kraftwerks, damals nuklearer Stolz der Sowjetunion, fast unscheinbar. Es ist jener Meiler, der 1986 explodierte und einen Schwall hoch radioaktiver Elemente über Europa verteilte. Unscheinbar auch deshalb, weil neben dem Katastrophenmeiler neuerdings dieses alles überragende, metallisch leuchtende Gewölbe thront.

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"New Safe Confinement", NSC, nennt das ausführende Konsortium Novarka das Bauwerk. In zwei Jahren soll der Hightech-Dom fertig sein. Die gewaltige doppelwandige Haube, unter der die Freiheitsstatue ebenso Platz fände wie die Kathedrale von Notre-Dame in Paris, soll im November 2017 über die Ruine des Kraftwerkblocks 4 geschoben werden und diese luftdicht einschließen. Bewegliche Kräne im Inneren werden in den kommenden Jahrzehnten dazu dienen, die nach dem Unglück provisorisch über den Reaktor gegossene Betonhülle, den viel zitierten Sarkophag, abzutragen, und irgendwann auch die noch immer massiv strahlenden Innereien des Blocks.

In den Wochen und Monaten nach dem Unglück vom 26. April 1986 hatte das Sowjetregime zunächst 5000 Tonnen Beton aus Hubschraubern in die offene Reaktorruine schütten lassen. Im Herbst jenes Jahres wurde in großer Eile der Sarkophag über das Gebäude gemauert - ein Provisorium, das Fachleute seither für alles andere als sicher halten. Das Dach des Sarkophags könnte jederzeit einstürzen, fürchten Experten übereinstimmend, und das lavaartige, womöglich vor sich hin bröselnde Gemisch aus Beton und radioaktiven Spaltelementen freisetzen. Um zu verstehen, was das bedeuten könnte, muss man wissen, dass bei der Katastrophe vor 29 Jahren nur etwa vier Prozent des strahlenden Inhalts aus dem Reaktor entwichen sind. 96 Prozent der Radioaktivität aus dem Reaktorkern blieben in der einbetonierten Ruine. Das neue Dach soll diesen Sarkophag nicht ersetzen, sondern wie eine luftdichte Hülle darübergestülpt werden, um das Biest in den kommenden Jahrzehnten zu zähmen.

Bevor man sich nähern darf, wird bei Schnittchen und Tee zur Sicherheitsunterweisung geladen. Mit ernster Miene erklärt ein Beamter, warum die Unterweisung heute ausnahmsweise nicht die vorgeschriebenen anderthalb Stunden dauere, sondern nur zehn Minuten. In diesen zehn Minuten wird auf das Verbot verwiesen, Drogen und Waffen mitzubringen.

Selbst wenn der alte Meiler unter dem NSC kollabiert, soll kein Partikel entweichen

Dann geht es hinüber zur Besichtigung des New Safe Confinement. "Es ist die größte bewegliche Struktur, die je an Land gebaut wurde", erklärt der Novarka-Chefingenieur Nicolas Caille stolz. Einhundert Jahre lang soll sie halten und der Ukraine Zeit geben, den Unglücksreaktor abzutragen. Einem Erdbeben der Stärke 6 soll das Hightech-Gewölbe widerstehen, ebenso wie einem Tornado der Kategorie drei. "Sollte es je dazu kommen, ist das Confinement das sicherste Gebäude in der ganzen Ukraine", scherzt Vince Novak, der für nukleare Sicherheit zuständige Direktor bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, EBRD. Tatsächlich ist die Konstruktion in technischer Hinsicht einzigartig. Fast 700 000 Bolzen halten das 260 Meter breite und mehr als 110 Meter hohe bogenförmige Geflecht aus Stahlstreben zusammen. Die Außenhaut ist mit sieben Lagen unterschiedlicher Komposit-Materialien beschichtet. Wenn alles fertig ist, wird die gesamte 34 000 Tonnen schwere Konstruktion auf Teflon-Schienen über den Kraftwerksblock 4 geschoben, keine Räder der Welt könnten das Gewicht tragen. Membranen, wie sie Torpedorohre in U-Booten abdichten, werden die Lücken zwischen dem neuen Dach und der Ruine versiegeln. Den Fachleuten zufolge könnte der alte Meiler darunter komplett einstürzen, ohne dass ein radioaktives Partikel in die Umwelt gelangt.

Ein solches Bauwerk hat natürlich seinen Preis. Und dieser ist, man kennt es von öffentlich finanzierten Projekten, in den vergangenen Jahren kräftig gestiegen. 2,15 Milliarden Euro lautet die jüngste Schätzung der Gesamtkosten, 615 Millionen mehr, als noch vor gut zehn Jahren veranschlagt wurden. 40 Länder haben bislang zu dem Projekt beigetragen, gemeinsam mit der EBRD. Die letzten 100 Millionen Euro sollen nun auf einer Geberkonferenz im April zusammenkommen. Erst vor wenigen Tagen hat die Bundesregierung weitere 18 Millionen Euro zugesagt.

Wesentlich schwieriger erscheint die Frage: Was passiert danach? Der bisherige Plan sieht vor, das Confinement den ukrainischen Behörden im Herbst 2017 zur weiteren Verwendung zu übergeben. Doch die Hightech-Hülle ist kein Gebäude, das man auch einfach stehen lassen könnte, sondern eine riesige Maschine. Um seinen Zweck zu erfüllen, muss im Inneren des Gewölbes ständig ein Unterdruck erzeugt werden. Nur so können keine radioaktiven Partikel entweichen. Und damit das Geflecht aus Stahlstreben nicht rostet, darf die Luftfeuchtigkeit zwischen der äußeren und inneren Wand des Gewölbes nicht über 40 Prozent steigen. Das gesamte Bauwerk muss daher permanent mit Computern, Ventilen, Ventilatoren und wer weiß was am Laufen gehalten werden.

"Lasst das Atom regieren und nicht Soldaten", fordert der Schriftzug auf diesem verlassenen Haus in riesigen Lettern (Foto: pai)

Die Befürchtung liegt nahe, dass die von Krieg und Wirtschaftskrise gepeinigte Ukraine damit überfordert sein wird. In den vergangenen Jahren ist die Verantwortung für das verrottende Kraftwerk bereits zwischen verschiedenen Ministerien hin und her geschoben worden. Die Gehälter der Angestellten seien gefährdet, ist zu hören. Der aktuell zuständige Umweltminister nimmt sich dennoch nur 15 Minuten Zeit, um die Delegation aus Europa am Vorabend in Kiew zu begrüßen. "Ich kann nicht ausschließen, dass die Ukraine für den Betrieb des Confinements weitere finanzielle Forderungen stellen wird", sagt Balthasar Lindauer, stellvertretender Direktor bei der EBRD. Doch Aufgabe seiner Bank sei es im Moment, das Bauwerk fertigzustellen, bis es an die Ukraine übergeben wird.

Dabei ist Reaktorblock 4 keineswegs die einzige Katastrophe von Tschernobyl. Aus dem Betrieb der drei anderen Reaktoren, die bald nach dem Unglück wieder angeworfen wurden und von denen der letzte bis zum Jahr 2000 lief, liegen Tausende benutzte Brennelemente zum Teil seit Jahrzehnten in sogenannten Nasslagern, zu Deutsch in undefinierbaren Flüssigkeiten, wo sie brüchig und feucht geworden sind. Jahrelang war ein französisches Konsortium damit beauftragt, die vergammelten Brennstäbe in Fässer zu packen und zu entsorgen. Aber das klappte nicht. Nach heftigem Streit sind nun Amerikaner am Werk. Um die strahlende Erblast in den Griff zu bekommen, entsteht einige Hundert Meter von den ehemaligen Reaktoren entfernt ein Gebäude, das aussieht wie ein Hotelneubau ohne Fenster. Daneben wurden zwei Hunderte Meter lange Betonriegel in die Landschaft gerammt, mit Löchern, in denen die Fässer mit den Brennstäben für die kommenden hundert Jahre versenkt werden sollen - wie Urnen in einer Grabwand.

Gut 3000 Menschen sind noch auf dem Gelände tätig. Richtige Schutzanzüge trägt niemand

Mehr als 3000 Menschen arbeiten auf dem gesamten Kraftwerksgelände, obwohl seit 15 Jahren keine Energie mehr produziert, sondern nur noch Abfall beseitigt wird. Arbeiter werden in Bussen herumgefahren, die aussehen, als hätten sie schon zu Breschnews Zeiten Menschen befördert. Viele Gebäude wirken verlassen, doch gelegentlich öffnet sich ein Rolltor, und Arbeiter mit weißen Mützen erscheinen. Ernst zu nehmende Schutzanzüge trägt hier niemand. Im Inneren einer der Hallen sind Metallfässer bis an die Decke gestapelt. Sie enthalten strahlende Flüssigkeiten aus Tanks, die seit Sowjetzeiten nicht angerührt wurden und deren radioaktive Stoffe nun mühevoll ausgefiltert, einzementiert und irgendwo deponiert werden. Wie viel von dem Zeug noch auf dem Gelände herumliege? 24 000 Tonnen, schätzt einer der Techniker. Und wie lange es dauere, diese Menge abzuarbeiten? Nun, sicherlich 20 Jahre, sagt der Mann mit einem freundlichen Lächeln.

Auf dem Verwaltungsgebäude prangt noch eine Ikone sozialistischer Kunst. Das parkettbelegte Auditorium mit knallroten Kunstledersitzen und einem riesigen Luftbild des einst intakten Kraftwerks versprüht originale Sowjet-Aura, während der amtierende Kraftwerksleiter Igor Gramotkin die europäischen Geldgeber willkommen heißt. Aus dem Fenster der Kantine lässt sich bei Karottensalat und Hühnchen die Ruine des nie fertiggestellten Reaktorblocks 5 bewundern. Es war einer von insgesamt zwölf Meilern, die einst auf dem Gelände von Tschernobyl entstehen sollten. Pläne, die in der Nacht zum 26. April 1986 ihr Ende fanden.

Sowjetische Kunst prangt an der Wand des einstigen Verwaltungsgebäudes (Foto: pai)
© SZ vom 28.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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